Die Krise des Glaubens in der westlichen Welt

Der Beitrag Joseph Ratzingers zum Zeugnis der christlichen Kirche heute
von Weihbischof Hans-Jochen Jaschke

Ein Zitat: „Für Viele ist der praktische Atheismus heute die normale Lebensregel. Es gibt vielleicht irgendetwas oder irgendjemanden, denkt man, der vor Urzeiten einmal die Welt angestoßen hat, aber uns geht er nichts an. Wenn diese Einstellung zur allgemeinen Lebenshaltung wird, dann hat die Freiheit keine Maßstäbe mehr, dann ist alles möglich und erlaubt. Deshalb ist es ja auch so dringlich, dass die Gottesfrage wieder ins Zentrum rückt“ (LW 68). „…Religiosität muss sich neu regenerieren… und damit auch neue Ausdrucks- und Verstehensformen finden. Der Mensch von heute begreift nicht mehr so ohne weiteres, dass das Blut Christi am Kreuz Sühne für seine Sünden ist. Das sind Formeln die groß und wahr sind, die aber in unserem ganzen Denkgefüge und unserem Weltbild keinen Ort mehr haben, die übersetzt und neu begriffen werden müssen. Wir müssen beispielsweise wieder verstehen, dass das Böse wirklich aufgearbeitet werden muss“ (LW 163 f). Als Professor und theologischer Lehrer, als einer der bedeutenden Theologen des Konzils, als Bischof und als Präfekt der Glaubenskongregation und nunmehr im höchsten Amt für die ganze Kirche dient Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. dem Glauben. Er lebt in ihm und lebt ihn vor. Er weist ihn auf, beschreibt und entwickelt seine Gestalt aus der unerschöpflichen Quelle der Schrift des Ersten und des Neuen Testamentes, geleitet und geprägt von der reichen Überlieferung der Kirche, im Gespräch mit den Menschen, mit ihrer Geistigkeit und ihrer Kultur, immer mit einem klaren auch kritischen Blick auf die Befindlichkeiten und Situationen einer sich selbst genügenden Welt. Die angeführten Zitate aus dem jüngsten Interview des Papstes führen mitten hinein in das Thema. Sie markieren die Positionen, die Benedikt der XVI./ Joseph Ratzinger in seinem Jahrzehnte langen Wirken und Denken entwickelt und vertreten hat. Sie weisen auf seine Grundintuition hin, eine Vermittlung und Sprache für den Menschen heute zu finden.

1. Zur Lage des Glaubens

der Fischer
„Erinnere dich daran, dass du nicht der Nachfolger von Kaiser Konstantin, sondern der Nachfolger eines Fischers bist“. Benedikt XVI. nimmt die Mahnung ernst, die einst der heilige Bernhard von Clairvaux Papst Eugen III. ins Gewissen geschrieben hat (LW 93 f). Er will Fischer und Hirte für die Menschen sein. Sie für die Einladung Jesu Christi zum Glauben an Gott zu gewinnen, bleibt sein Herzensanliegen, sein wichtigster Dienst. Natürlich muss der Papst regieren und leiten, wird er aufgerieben durch die Fülle seiner Verpflichtungen. Aber er will sich nicht in einem äußeren Aktivismus verlieren, sondern immer neu den „inneren Überblick, die innere Sammlung… behalten, aus der dann die Sicht aufs Wesentliche kommen kann“ (LW 94). Aufgabe der Kirche muss es vor allem sein, den Glauben vorzuleben, ihn zu verkündigen „und so die große Freiwilligengemeinschaft… über alle Kulturen, Nationen und Zeiten hinweg… im inneren Zusammenhang mit Christus und so mit Gott selbst zu halten“ (LW 96). In den Schuhen des Fischers unternimmt er seine Reisen, nicht wie ein Star, aber weil er spürt, wie die Menschen über ihn „mit dem Vertreter des Heiligen, mit dem Geheimnis, dass es einen Nachfolger Petri und einen gibt, der für Christus stehen muss“ (LW 95), Kontakt suchen. Seine Reisen führen ihm ein Bild der Kirche vor Augen, das neue Aufbrüche, Glaubensfreude und Elan zeigt, aber auch die „Krise der Kirche in der westlichen Welt“ (Lage 41 f). Dankbar erlebt er die Zeichen der Hoffnung (LW 156 f). Er leidet an den beschämenden Skandalen, die die Kirche anderen geschlagen hat und somit am eigenen Leib trägt (LW 31-51). Und immer wieder spricht er von der bitteren Enttäuschung über eine moderne Welt, die von einer Säkularität gepackt wird, in der christlicher Glaube keinen Platz findet und das Verständnis für die eigentliche, von Gott gewährte Wirklichkeit der Kirche verloren geht. Die Glaubenskrise und die Krise des Kirchenverständnisses sind zwei Seiten einer Medaille (Lage 45-54).

eine Vergiftung des Denkens
Es geht um Gott. Unter einem praktischen Atheismus als Lebensregel spielt Gott keine Rolle. Menschen leben ohne Maßstäbe, alles ist möglich, alles erlaubt. Nur wenn Gott, wenn die Frage nach ihm neu ins Zentrum rückt, können wir der großen Krise unserer Gegenwart recht begegnen und in ihr bestehen. „Das ist freilich kein Gott, den es irgendwie gibt, sondern der uns kennt, der uns anredet und uns angeht – und der dann auch unser Richter ist“ (LW 68). Der Papst nimmt das Wort von der Vergiftung des Denkens auf. Diese vollzieht sich in der westlichen Welt und bildet den Kern der drohenden globalen Katastrophe, die durch die großen Schlagworte Umwelt und Klima, extreme Armut, gigantischer Reichtum, astronomische Schuldenbelastungen markiert wird. Die Vergiftung besteht in einem Fortschrittsbewusstsein, das Erkenntnis und Wissen zur alles bestimmenden Macht erklärt, die Erkenntnis reduziert auf das, was mit unseren Mitteln zu beweisen und nachzuvollziehen ist, und die Frage nach dem bleibend Guten, nach einem verbindlichenMaßstab nicht mehr stellen kann (LW 61ff). Der Verlust des wirklichen Gottes muss zu einer solchen Reduktion und Verarmung finden.

ein wissenschaftliches Denkmodell
Es muss die Aufgabe eines wachen Verstandes und kritischer Geister sein, ein uns bestimmendes wissenschaftliches Denkmodell zu analysieren, seine Legitimität, aber auch seine Grenzen aufzuweisen. Die positive Wissenschaft, nicht die zuletzt die neuzeitliche führt zu ungeahnten Erfolgen, deren Ende nicht abzusehen ist. Aber wenn sie zu einem scheinbar geschlossenen System wird, von Denkverboten, ja von einer „Arroganz“ des Denkens (LW 197) bestimmt erscheint, wird sie unserer Wirklichkeit, insbesondere der Wirklichkeit des Menschen nicht gerecht. Wir müssen einen Blick auf das Ganze gewinnen, dem größeren Geheimnis nachgehen, nach dem „woher“, dem „wohin“, dem „warum“ ausschauen, die großen menschlichen Grunderfahrungen wie Liebe, Sehnsucht, Schuld, Versagen nicht überspielen. „Warum sollte Gott nicht imstande sein fragt der Papst, auch einer Jungfrau eine Geburt zu schenken? Warum sollte Christus nicht auferstehen können?… Wie viele Möglichkeiten der Kosmos in sich birgt und sich über und in dem Kosmos verbergen – das zu entscheiden kann nicht unsere Sache sein“ (LW 197, vgl. 162 f). Mit solchen Erfahrungen und Sichten verwahrt sich Joseph Ratzinger auch gegen ein „heute vielfach noch akzeptiertes – deistisches Gottesbild, das Bild eines Uhrmachers, der den Mechanismus entworfen, in Gang gesetzt hat und ihn seinen Lauf nehmen lässt. Auch ein Rückzug Gottes aus der Welt auf eine überweltliche, transzendentale Ebene würde weder der biblisch – christlichen Gottesgewissheit entsprechen noch die Herausforderungen aufnehmen, die an ein modernes Denkmodell zu stellen sind. Gott will mit seiner Welt zu tun haben und für jeden Einzelnen da sein“ (Mitte 105-107). So lädt der Papst und Theologe zu einer größeren umfassenden Rationalität ein, in der Gott aufscheinen kann, zur Öffnung auf neue Dimensionen der Existenz über eine „Biosphäre“ und „Noosphäre“ hinaus, wie ein Teilhard de Chardin es einst gesagt hat (LW 197), zu einem „Durchbruch durch die Schallmauer der Endlichkeit“ (LW 208). Das muss der erste Dienst kirchlicher Verkündigung, das soll Benedikt XVI. Dienst im Petrusamt des Fischers sein.

2. Europas Wurzeln

Veränderungen „… In wie weit gehören die Menschen der Kirche überhaupt noch zu?“ fragt der Papst. „Sie wollen ihr einerseits zugehören, wollen dieses Fundament nicht verlieren. Andererseits sind sie natürlich doch auch inwendig geformt und gestaltet von der modernen Denkart… Wir müssen danach trachten, dass beides, soweit es sich vereinbaren lässt, sich ineinander fügt. Das Christliche darf nicht zu einer Art archaischer Schicht werden… Es ist selbst etwas Lebendiges… das meine gesamte Modernität durchformt und gestaltet und sie insofern regelrecht umarmt“ (LW 76). Joseph Ratzinger hat seit langem immer wieder seine Sicht unterstrichen, die Kirche der Zukunft werde eine andere Gestalt haben, als sie sich in Europa entwickelt habe. Auch das Wort vom Ende der Volkskirche war aus seinem Mund zu hören (Salz, Lage). Immer hat er auf neue christliche Entschiedenheit gedrängt, auf einen tragfähigen Glauben der Einzelnen wie der Gemeinschaften und auf die unterschiedlichen Situationen vor Ort wie in den einzelnen Ländern hingewiesen. Seine neueste Äußerung kann als eine gute Devise für die Kirche in den europäischen Gesellschaften gelten: Wir halten fest, was uns gemeinsam und als einzelne geprägt hat, geben ihm Gestalt als Gewand des Glaubens und als Raum unserer Kultur. Und wir lassen uns unter dem Impuls der Neuevangelisierung zur Neuentdeckung des Glaubens einladen, auch dazu, einem Säkularismus gegenüber Widerstand zu leisten und an der Gestaltung der modernen Welt mitzuarbeiten, die Kraft aus ihren authentischen Wurzeln schöpft, sie offenhält für den ganz Anderen und vor einem Absinken ins Bodenlose bewahrt. Die Moderne so zu umarmen, ist eine verlockende Perspektive, weil sie sich nicht in einer starren und sterilen Abwehr erschöpft, sondern kreative, positive Kräfte freisetzt.

Grundfragen – Aussichten
Joseph Ratzinger hat entscheidende Grundfragen und Aussichten für das Verhältnis von Kirche und moderner Welt, besonders im Kontext europäischer Situationen formuliert. Er hat die Krise der Werte diagnostiziert, an unverlierbare Maßstäbe für Recht und Gerechtigkeit erinnert, an den Rang des Moralischen, an die soziale Verantwortung (Wendezeit. Wahrheit). Religionsfreiheit, auch die Freiheit, nicht zu glauben, bilden – wenn auch erst in mühsamen Entwicklungen von den Christen erkannt – eine selbstverständliche Grundlage für Europa. Aber Christen wehren sich genauso gegen eine tatsächliche Abschaffung der Toleranz, die gerade im Gewand moderner Toleranz auftritt: gegen die Aggressivität einer vermeintlich neuen Religion im Namen einer Vernunft, die den Gotteswahn verkündet, gegen eine allgemeine Denunzierung der christlichen Geschichte, der christlichen Lehre (LW 72f). Christen kämpfen für die kulturelle Identität ihrer Länder, sei es das Kreuz im öffentlichen Raum, Traditionen und Werte. Sie sehen es als selbstverständlich an, dass etwa Muslime bei uns ihre Moscheen haben, öffentlich beten und auch in ihrer Kleidung ihre Identität zum Ausdruck bringen können (LW 75). Natürlich gelten die Forderungen nach Religionsfreiheit heute insbesondere für Länder die von muslimischen Mehrheiten bestimmt sind.

Europa als verpflichtendes Erbe
Über Europa als verpflichtendes Erbe für die Christen hat Joseph Ratzinger erhellende und bleibend gültige Gedanken entwickelt (Kirche Ökumene 198-210). Europa ist mehr als eine „politisch – wirtschaftliche Interessengemeinschaft“, mehr als „ein nebulöser romantischer Traum“. Der Idee, der Idealität Europas in einem „sittlich geprägten politischen Handeln“ Gestalt zu geben, stellt sich die Kirche als einer besonderen Herausforderung. Paulus – so sagt es die Apg (16, 9-10) – hat in Troas in Kleinasien mit dem Blick auf das Meer, das nach Griechenland führt, einen Traum. Ein Grieche ruft ihm zu: Komm herüber und hilf uns. Paulus und seine Begleiter sind auf der Stelle „überzeugt, dass uns Gott dazu gerufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden“. So kommt das Christentum – aus der Welt des AT, aus dem Orient, von den Juden, aus dem Erleben des Lebens Jesu in Palästina, aus der Erfahrung von Tod und Auferstehung Jesu Christi in Jerusalem – zu den Griechen, nach Europa.

• Europa hat mit den Griechen begonnen. Bei Homer ist Europa das mittlere Griechenland. Herodot teilt die Erde in Asien, Europa und Afrika. Die Griechen haben die Demokratie entwickelt, gebunden an das Recht und die bleibend gültigen Werte. Ihr Geist und ihre Kultur haben weithin ausgestrahlt. (Athen)

• Mit der christlichen Verkündigung erfolgt „die in Jesus Christus vermittelte Synthese zwischen dem Glauben Israels und dem griechischen Geist“ (ebd. 205). Die Zeugnisse über Jesus im NT und in der frühen Kirche prägen den griechischen Geist, wie sie selber von ihm geprägt werden. (Jerusalem)

• Der Weg des Paulus führt von Jerusalem über Griechenland nach Rom. Rom mit seiner Tradition, mit dem von ihm integrierten griechischen Erbe, mit der ganzen Vielfalt des römischen Reiches bildet die dritte Schicht Europas, vielgestaltig und differenziert, unter Kaisern und Päpsten, in seinen Nationen, in seinen geistigen und kulturellen Bewegungen. (Rom)

• Die vierte Schicht ist das Erbe der Neuzeit, in der Auseinandersetzung, auch im Widerspruch zum Christentum, aber doch gespeist von den grundlegenden humanen Werten, die einer christlichen Weltsicht entstammen. (Neuzeit)

In diesem Europa dürfen Christen nicht eine Randgruppe bilden. Sie sind Träger des europäischen Geistes und seiner Geschichte. Sie wahren Europas Erbe und sind aktiv dabei, es in neuen Zeiten fruchtbar zu machen. Europa ist ihr Haus, das sie zusammen mit den Vielen teilen, die Europas Grundwerte bejahen. Christen – Katholiken, wie die Christen der Reformation – stehen über die noch unaufhebbaren Differenzen hinweg vor der Aufgabe, in dieser Welt „eine gemeinsame Stimme zu den großen Fragen zu haben und Christus als den lebendigen Gott zu bezeugen“ (LW 120). Und in der veränderten Weltsituation verlaufen die Fronten zwischen Christen und Muslimen so, dass sie gemeinsam einem radikalen Säkularismus gegenüber für die Frage nach Gott einzustehen haben (LW 120 f). Europa stellt unter geänderten Situationen den Gläubigen aller Religionen neue Aufgaben.

3. Die Priorität Gottes

es geht um Gott
Benedikt des XVI. entscheidender Beitrag zum Zeugnis der Kirche heute besteht in der Ansage: Es geht um Gott! Nicht um eine vage Gottesidee, nicht um ein Göttliches, das sich in den Fernen einer unverbindlichen Jenseitigkeit verliert, das selber nicht in Erscheinung treten will, sondern um Gott, der seinen Menschen angeht, ihm nahe ist als Mensch in Jesus Christus und jeden Einzelnen, die Kirche, die Welt in der Kraft seines Geistes bewegt. Die „Priorität Gottes neu ins Licht zu bringen“ ist „heute das Wichtigste, dass man wieder sieht, dass es Gott gibt, dass Gott uns angeht und dass er uns antwortet“. Die Kirche braucht Menschen, Bewegungen, damit sie „aus den Erfahrungen der Zeit schöpfen und zugleich aus der inneren Erfahrung des Glaubens und seiner Kraft kommend Wegmarken setzt – und damit die Präsenz Gottes wieder zum Kernpunkt macht“ (LW 86). „Wir müssen darstellen – und dies auch leben, dass die Unendlichkeit, die der Mensch braucht, nur von Gott kommen kann“, alle Kräfte gegen die zerstörerischen und falschen Prägungen der Zeit mobilisieren, damit „auf diese Weise der Kreislauf des Bösen gesprengt und aufgehalten werden kann“ (LW 81f).

Gott aufscheinen lassen
Gott aufscheinen zu lassen, das kann natürlich nicht in unserer, in der Kirche Hand liegen. Der immer unendlich größere Gott bleibt souverän. Er erscheint, er entzieht sich, wie es ihm entspricht. Gott muss immer dem Einzelnen aufgehen, Glauben finden bei ihm, ihn mit seiner Gnade umfangen und erwecken, damit er ihm sein Herz öffnet und damit der Einzelne Vertrauen und Glaube zu ihm findet. Aber Sache der Kirche ist es, mit Kraft und Leidenschaft vom lebendigen Gott Zeugnis zugeben, Anstöße und Hindernisse, die sie oft genug selber gibt, aus dem Weg zu räumen, und auch immer wieder die Lehrstellen, die Sackgassen eines modernen Lebens aufzudecken, das sich von Gott verabschieden möchten. Joseph Ratzinger hat schön formuliert: „Gotteserkenntnis (ist) letztlich keine Frage reiner Theorie, sondern einer Lebenspraxis… Sie hängt von dem Verhältnis ab, das der Mensch zwischen sich und der Welt, zwischen sich und seinem eigenen Leben errichtet“ (Der Gott Jesu Christi 13). Die Beziehung zum eigenen Ich, zum Du, zum Wir – in der Erfahrung des Geliebtseins oder der Verstoßenheit, sie bietet die Vorraussetzung dafür, dass ich mich dem ganz Anderen öffnen kann. Er bildet keine Bedrohung, stellt keine Konkurrenz dar, sondern erscheint mir als der Grund des Vertrauens, unverkrampft Ja zu sagen zu mir selber, die andere Person ohne Angst zu erfahren, als Geschenk und Bereicherung, in einem gemeinsamen Wir, das von einer größeren Liebe getragen wird. „Der Mensch, der auf Liebe angelegt ist, kann in der Gegenwart Gottes, die im überall umgibt, die Geborgenheit finden, nach der sein ganzes Wesen ruft. Er kann darin die Überwindung der Einsamkeit sehen, die kein Mensch letztlich aufzuheben vermöchte. Er kann in der geheimen Gegenwart den Grund des Vertrauens finden, der ihn leben lässt. Die Antwort auf die Gottesfrage wird hier entschieden“ (Der Gott Jesu Christi 15). Glaube, so lesen wir in Joseph Ratzingers Einführung zum Christentum, bedeutet über das Sehen, Hören, Greifen hinaus eine „zweite Form vom Zugang zum Wirklichen…, die Option, dass das nicht zu sehende, das eigentlich wirkliche… darstellt…, das ist, was dem Menschen wahrhaft menschliche Existenz gewährt… Solche Haltung ist freilich nur zu erreichen durch das, was die Sprache der Bibel „Umkehr“, „Bekehrung“ nennt… Der Glaube ist die Bekehrung in der der Mensch entdeckt, dass er einer Illusion folgt, wenn er sich dem Greifbaren allein verschreibt… Er ist eine Wende seines Seins. Und nur wer sich wendet, empfängt ihn“ (Einführung 27 f). In solchen Zusammenhängen, unter solchen Bedingungen erschließt sich Gott, der in der Bibel des Alten Testaments den Menschen anruft: Adam, wo bist du, der Mose im Dornbusch machtvoll aufscheint und im Mensch gewordenen Sohn Jesus Christus und in der Kraft des Heiligen Geistes für immer präsent bleibt.

der Gott Jesu Christi
Gott, dessen Priorität ans Licht zu bringen, die Ehre der Kirche sein muss, ist der Gott Jesu Christi. „Was hat Jesus gebracht?“ fragt der Papst mit allen, die ihm folgen, in seinem großen Jesusbuch „was hat Jesus dann eigentlich gebracht, wenn er nicht den Weltfrieden, nicht den Wohlstand für alle, nicht die bessere Welt gebracht hat? Die Antwort lautet ganz einfach: Gott. Er hat Gott gebracht. Nun kennen wir sein Antlitz, nun können wir ihn anrufen. Nun kennen wir den Weg, den wir als Menschen in dieser Welt zu nehmen haben… Ja, Gottes Macht ist leise in dieser Welt, aber sie ist die wahre, die bleibende Macht… Die Reiche der Welt, die Satan damals dem Herrn zeigen konnte, sind alle versunken… Aber die Herrlichkeit Christi, die demütige und leidensbereite Herrlichkeit seiner Liebe ist nicht untergegangen und geht nicht unter“ (Jesus von Nazareth I 73 f). „Der erste Blick auf das Geheimnis Jesu“ zeigt: „Er lebt vor dem Angesicht Gottes, nicht nur als Freund, sondern als Sohn; er lebt in innigster Einheit mit dem Vater… Die Lehre Jesu kommt nicht aus menschlichem Lernen, welcher Art auch immer. Sie kommt aus der unmittelbaren Berührung mit dem Vater, aus dem Dialog „von Gesicht zu Gesicht“… Sie ist Sohneswort… Dieser kann vom Vater nur so reden, weil er der Sohn ist und in der Sohnesgemeinschaft mit dem Vater steht“ (ebd. 31 f). Glaubwürdigkeit Das Jesusbuch, nicht ein Buch des Lehramtes, sondern des Theologen Joseph Ratzinger findet weltweite Aufmerksamkeit, da es in der kritischen Auseinandersetzung mit der Schrifterklärung der Moderne einen neuen Akzent setzt. Es zeigt, dass Jesus, wie die Evangelien des NT ihn darstellen, glaubwürdig ist. Natürlich stellt sich das Evangelium der historischen Kritik über literarische Gattungen, über die Kontexte der frühen Gemeinden, über Glaubenssichten, die die Texte bestimmen. Aber im Ganzen ist „sein“ Jesus verlässlich. Alle Konstrukte, die einen vermeintlich historischen Jesus aus dem Evangelium herausdestillieren wollen, greifen zu kurz, enden in der Willkür Einzelner oder des Geistes eines „positivistischen Historismus“. Ihnen gegenüber lässt sich der Jesus der Evangelien als der „wirkliche“ als der historische im eigentlichen Sinn mit großer Plausibilität und historischer Stimmigkeit verstehen (ebd. 20 f). Joseph Ratzinger schiebt historische Kritik nicht beiseite, aber er öffnet sie, und führt sie über sich hinaus. Selbstverständlich muss es dabei bleiben: Der Glaube, dass Jesus tatsächlich der Gottes war, kann nicht durch die Historie getroffen oder entschieden werden. Er bleibt die Entscheidung des gläubigen Menschen, gestützt von der Gemeinschaft der Kirche und geteilt durch sie. Aber die Texte der Evangelien sind durch diese Glaubensgewissheit bestimmt und erschließen sich von ihr. „Notwendig ist nicht einfach ein Abbruch, sondern eine Selbstkritik der historischen Methode, eine Selbstkritik der historischen Vernunft“ (LW 201). So lässt Joseph Ratzinger das Bild von Jesu Christi einleuchtend in unseren Zeiten neu aufscheinen. Er ermutigt die kritische Vernunft, an ihm Maß zu nehmen.

4. Die Gestalt des Glaubens

den Glauben vorsetzen
Joseph Ratzinger erzählt von einem knappen, prägnanten Hinweis, den ihm einmal sein theologischer Freund Hans Urs von Balthasar gegeben hat: Man soll den Glauben nicht voraussetzen, sondern vorsetzen. Theologie und Kirche müssen sich natürlich immer den neuen Fragen und Herausforderungen stellen. Jeder einzelne Gläubige steht vor der Aufgabe, seinen Glauben neu zu gewinnen, lebendig werden zu lassen. Aber der Glaube muss immer „aus dem zentralen Licht des Glaubens selbst“ hervorkommen, „von diesem Licht gehalten“ werden (Mitte 111). Schon früh hat Joseph Ratzinger Formen der heute gängigen Katechese kritisiert. Sie lehren nicht mehr „den katholischen Glauben in seiner harmonischen Ganzheit – wo jede Wahrheit die andere voraussetzt und zugleich erklärt -, sondern versuchen, einige Elemente des christlichen Erbes menschlich „interessant“ zu machen und lassen sich damit von zeitbedingten subjektiven Vorraussetzungen bestimmen“ (Lage 72 f). Der Glaube hat personalen Charakter – ich glaube an Dich –, immer mit dem Wort, dem Logos, dem Nachdenken verbunden. Das Ich steht im „wir“ der Kirche, lernt die gemeinsame Sprache der Glaubensgeschichte, wird von ihr getragen und prägt sie selber. „Es ist notwendig, sich daran zu erinnern, dass seit den ersten Zeiten des Christentums ein bleibender und unverzichtbarer „Kern“ der Katechese und somit der Glaubensbildung bleibt“ (Lage 73). Und das sind die grundlegenden Elemente: Gott, Jesus Christus, Heiliger Geist, Gnade – Sünde, Sakramente – Kirche, Tod – ewiges Leben, das Glaubensbekenntnis, das Vater Unser, die 10 Gebote.

Katechese
Den Glauben so zur Sprache zu bringen, dieses große Anliegen von Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI., hat im KKK Ausdruck und Gestalt gefunden. Sein eigenes theologisches Werk, die vielen einzelnen Stücke und Fragmente zeichnen die vielfältige Gestalt des Glaubens nach und lassen sie in ihrer harmonischen Ganzheit aufleuchten. Mit Herausstellung des Katechismus und dann ganz konkret des KKK will Joseph Ratzinger nicht einem abstrakten systematischen Anliegen entsprechen. „Der Katechismus hat die beiden Hauptfragen, die Frage nach dem „Was“ und dem „Wer“ des Glaubens als innere Einheit behandelt“ (Mitte 112). Glaubensakt und Glaubensinhalt gehören zusammen. Der Einzelne überschreitet sein Ich und tritt ein in das Mitsein, in die Gemeinschaft der Kirche. In dieser Überschreitung kommt das Du des ganz Anderen, das Du Gottes ins Spiel. So lässt der Gläubige sich im Bekenntnis zum Dreieinigen Gott einbeziehen in die Begegnung mit dem Gott, der ihn anrührt, der ihn sehen lässt, was Jesus Christus gesehen hat und ihm innerlich nahe und lebendig bleibt im Heiligen Geist. „Wenn man den Glaubensakt richtig sieht, entfalten sich sinngemäß die einzelnen Inhalte wie von selber. Gott wird uns konkret in Christus. So wird zum einen sein trinitarisches Geheimnis erkennbar, zum anderen sichtbar, dass er sich selbst in die Geschichte eingelassen hat bis zu dem Punkt, dass der Sohn Mensch geworden ist, und uns den Geist vom Vater her sendet. In der Menschwerdung ist aber auch das Mysterium Kirche enthalten, denn Christus ist ja gekommen, um die zerstreuten Kinder Gottes zu sammeln“ (Mitte 113 f).

eine neue Sprache
Mit seinem Einsatz für den Katechismus und die Katechese will Joseph Ratzinger wieder zur Mitte, zur eigentlichen Wurzel zurückführen. Er wendet sich scharf gegen religiöse Beliebigkeit, gegen einen seichten Kurs des Liberalismus und übt immer auch Kritik an einer Kirche in Deutschland, die – verfestigt in Institutionen – sich mit authentischen Aufbrüchen aus der Mitte des Glaubens schwertut. Er zeigt sein blankes Unverständnis dafür, dass bei einem flächendeckenden Religionsunterricht unter den Augen der Bischöfe „so wenig hängen bleibt“ (Licht 169). Aber es geht dem Theologen Joseph Ratzinger und dem Mann in der Nachfolge des Fischers nie um einen sterilen Dogmatismus, um das Festhalten althergebrachter theologischer oder religiöser Schablonen. Die Umsetzung des authentischen Glaubens in die Sprache und Erfahrungswelt der Menschen heute bleibt ein entscheidendes Thema für ihn. Seine Einführung ins Christentum von 1967 begeistert bis heute durch die existentielle Sprache. Viele seiner Beiträge bestehen aus Predigten und Ansprachen und suchen so den direkten Kontakt zu den Menschen. Beim Konsens der Katholiken und Lutheraner über die Rechtfertigung (Gemeinsame Erklärung von 1999) hat Joseph Ratzinger auf die drängende Notwendigkeit hingewiesen, diesen Glaubensinhalt in die Erfahrungen des Menschen heute zu übersetzen, wenn er echte Wirksamkeit in Kirche und Ökumene finden soll. Und in seinem neuesten Interviewbändchen lässt er es nicht an klaren Worten fehlen. „Religiosität muss sich neu regenerieren. Der Mensch von heute begreift nicht mehr so ohne weiteres, dass das Blut Christi am Kreuz Sühne für seine Sünden ist. Das sind Formeln, die groß und wahr sind, die aber in unserem ganzen Denkgefüge und Weltbild keinen Ort mehr haben“ (Licht 163 f). Der Papst hält fest: „Die Substanz als solche zu sagen, aber sie neu zu sagen“, das muss zuerst zu einem „inneren Übersetzungsvorgang der großen Worte“, (Licht 84) führen. Der intellektuellen Übersetzung geht die innere, die existenzielle Übersetzung voraus.

Glaube und Vernunft
Seit seinen ersten theologischen Anfängen hat sich Joseph Ratzinger dem Thema von Glaube und Vernunft gewidmet. Beide sind von Gott gewährte Weisen des menschlichen Seins, Zugänge zur Wirklichkeit. Beide gehen nicht ineinander auf, sie schließen sich nicht aus. Sie bilden im Letzten keinen Widerspruch. Wir haben vor Augen, wie der Kardinal mit dem Philosophen, Ratzinger mit Habermas in München im Dialog gestanden hat. Habermas konnte einen Zugang zur Religion als Lebenswissen und einem notwendigen Korrektiv einer absoluten Vernunft finden. Ratzinger anerkannte den Wert der Vernunft, auch als ein Mittel, pathologische Erscheinungen der Religion zu korrigieren. Wir denken an die berühmte Regensburger-Rede: Der Papst provoziert Muslime mit der Frage, ob Allah nicht so sehr in den Raum der Transzendenz gerückt ist, dass er vor der menschlichen Vernunft willkürliche Züge zeigen kann. Die Frage hat schließlich in einen Dialog zwischen Kirche und Muslimen geführt, der freilich noch in den Anfängen steckt. Evangelische Christen sahen sich durch die Regensburger-Rede herausgefordert, über eine rechte Vernunft nachzudenken und sind mit den Katholiken zumindest anfangshaft ins Gespräch gekommen. Im jüngsten Interview erklärt Benedikt XVI.: „Nicht sehen ist die eine Sache, aber auch der Glaube des Nichtsehenden muss seine Gründe haben“. Er spricht von der „wesentlichen Rationalität“ Gottes schon im AT, davon, dass Gottes Universalität gerade auch auf seiner Vernünftigkeit beruht. „Es bleibt der große Auftrag der Kirche, dass sie Glaube und Vernunft, das Hinausschauen über das Greifbare und zugleich die rationale Verantwortung miteinander verbindet. Denn sie uns ja von Gott gegeben. Sie ist das, was den Menschen auszeichnet“ (LW 100 f).

5. Einladung zum Glauben

Der Beitrag Joseph Ratzingers/ Benedikt XVI. zum Zeugnis der Kirche unter dem Zeichen der Glaubenkrise hat viele Aspekte. Sie fordern den Menschen heraus, mit all seinen Fähigkeiten und unter den verschiedenen Bedingungen die fordernde und zugleich einladende Gestalt des biblisch christlichen Glaubens zu sehen. Sein Einsatz lässt sich nicht unter eine einzige Überschrift stellen. Der Papst begegnet ungezählten Menschen mit je eigenen Wahrnehmungen, in unterschiedlichen Situationen: Als der sympathische Hirte mit einem guten Blick für die Einzelnen, als Vertreter einer Institution, die einer Welt gegenüber, die sich selbst genügen will, ein notwendiges Ärgernis bildet. Er weiß sich auch beschämt durch bittere und traurige sekundäre Ärgernisse, die die Kirche selber bietet. Schließlich ist der Papst immer auch ein unbequemer Mahner, ein Wegweiser in unübersichtlichen Zeiten. Sein Beitrag besteht zuerst darin, dass er die Gottesfrage und die Einladung, sich von ihr ansprechen zu lassen, in aller Klarheit herausstellt. Er lässt nicht nach, auf die Mitte christlicher Gewissheit als den Fokus Glaubenslebens und des Glaubenszeugnisses zu zeigen. Er spricht die Einladung an die Vernunft aus, dem christlichen Glauben zu begegnen, im Dialog mit ihm zu wachsen und sich über sich selbst hinausführen zu lassen, aber auch dem Glauben ihren unverzichtbaren Dienst zu schenken. Mit besonderem Nachdruck unterstreicht der Papst, was sein Leben und Werk zentral bestimmt: Das Schicksal von Glaube und Kirche entscheidet sich an der Liturgie. Sie ist „der Ort, wo (die Kirche) am meisten auch wirklich als Kirche erlebt wird… Liturgie ist der Akt, in dem wir glauben, dass Er herein tritt und dass wir ihn berühren. Sie ist der Akt, in dem sich das eigentliche vollzieht“ (LW 183).

Es ist wahr: Liturgie ist die reale Präsenz Gottes in der Weltgeschichte, die alle Krisen besteht.

Anmerkungen
Die Zitate sind folgenden Büchern entnommen: Einführung ins Christentum, München 1968
Der Gott Jesu Christi, München 1976
Zur Lage des Glaubens, München, Zürich, Wien 1985
Kirche, Ökumene und Politik, Einsiedeln 1987 Wendezeit für Europa?, Einsiedeln 1991
Wahrheit, Werte, Macht, Freiburg 1993
Salz der Erde, Stuttgart 1996
Vom Wiederauffinden der Mitte, Freiburg 1997 Jesus von Nazareth I, Freiburg 2007
Licht der Welt, Freiburg 2010

Vortrag von Weihbischof Hans Jaschke am 19.4.2011, Stiftung Geburtshaus Papst Benedikt XVI., Marktl am Inn