2    C. Yannaras, Person und Eros. Eine Gegenüberstellung der Ontologie der grie­chi­schen Kirchenväter und der Existenz­phi­losophie des Westens, Göttingen 1982, 68, Anm. 184; vgl. M. Heidegger, Identität und Differenz. Pfullingen 1957, 70f.

3    Ebd.

4    B. Janowski, Tempel und Schöpfung. Schöpfungstheologische Aspekte der priesterli­chen Heiligtumskonzeption, in: JBTh 5 (1990) 37-69, hier 66.

5    Die Ein­wohnung Gottes inmitten der Schöpfung und unter den Menschen ist das innere Geheimnis der Schöpfung. Dies läßt sich aus der Theologie des Sab­bats näher erklären. Alle Dinge hat Gott im Dual geschaffen, betont eine alte jüdi­s­che Weisheit: Tag und Nacht, Himmel und Erde, Licht und Fin­sternis, Mann und Frau und ande­res mehr, nur der Sabbat steht einsam da. Am Sabbat wird kein Lebe­wesen, son­dern eine Zeit geseg­net: der siebte Tag. Er ist ein unge­rader Tag, weil er auf das ganze „Sechs­ta­ge­werk“ bezo­gen ist. Die Seg­nung dieses siebten Tages macht ihn zum Segen aller Schöp­fungsta­ge. Aber der Sabbatse­gen kommt aus keinem Tun Gottes, son­dern aus seinem Da-Sein. Die Segnung des Sab­bats unter­schei­det sich von der Segnung der geschaffenen Lebewe­sen da­durch, daß Gott ihn durch seine Ruhe, nicht durch eine Tätig­keit segnet. „Die Schöp­fung kann als Gottes Werk­offenbarung angesehen wer­den, doch erst der Sabbat ist Gottes Selbstoffenbarung. […] Der Sabbat ist kein Schöp­fungstag, son­dern der ‚Tag des Herrn‘.“ Alle Geschöpfe kommen in der Ruhe Gottes zu ihrer Ruhe, denn sie finden in der ruhenden und darin un­mit­telbaren Präsenz Gottes ihren tra­gen­den Grund und ihren Segen. Diesen Segen Gottes, der der ganzen Schöp­fung gilt und allen Din­gen in ihr Be­stand gibt, erfährt Israel durch die Feier des „siebten Tages“ (vgl. C. Westermann, Genesis. Biblischer Kommentar Altes Te­sta­ment, Neukir­chen 1974, 230ff.).

6 Benedikt XVI., Wer hilft uns leben? Von Gott und Mensch, Freiburg-Basel-Wien 2005, 87f.

7 J. Ratzinger, Der Gott Jesu Christi. Betrachtungen über den Dreieinigen Gott, München 1976, 53f.

8 Augustinus, De magistro, c.14,46.

9 R. Guardini, Der Herr. Über Leben und Person Jesu Chri­sti, Paderborn 1980, 542.

10 Ebd., 542f.

11 J. Ratzinger, Die Geschichtstheologie des hl. Bonaventura. Mün­chen 1959, 18.

12 Ebd., 15.


13 Vgl. H. Kessler, Partikularität und Universalität Jesu Christi. Zur Hermeneutik und Kriteriolo­gie kontextu­eller Christologie, in: R. Schwager (Hg.), Relati­vierung der Wahrheit? Kon­textuelle Christologie auf dem Prüfstand (QD 170), Freiburg-Basel-Wien 1998, 106-155, hier 119f.


14 R. Schneider, Der Priester im Kirchenjahr. Freiburg 1946, 53.

15 Ebd., 55.

16 H.U. von Balthasar, Das Ganze im Fragment. Aspekte der Geschichtstheologie, Einsiedeln 1990, 273.

18 Vgl. zum folgenden ebd., 268ff.


19 H.U. von Balthasar, Gott redet als Mensch, in: ders., Verbum caro, 73-99, hier 74.


20 R. Schneider, Die Stunde des heiligen Franz von Assisi. Kolmar 1941, 80.
21 Vgl. Thomas von Aquin, S.th. 1,1 q.174,6.

22 W. Dettloff, Die Geistigkeit des hl. Franziskus, in: WW 19 (1956) 197-211, hier 205.

23 Bonaventura, De scientia Christi, Quaest. VII.

25 Vgl. F .v. Baader, Gesammelte Schriften zur Philosophi­schen Anthropologie, in: Sämtl. Werke IV. Aalen 1963, 297.

26 R. Knierim, Cosmos and History in Israel’s Theo­logy, in: (U. Mauser) (Hg.), Horizons in Biblical Theology, Pittsburg u.a. 1961, 96.


27 J. Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre, 362.

28 J. Ratzinger, Schauen auf den Durchbohrten, 45.

29 J. Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre, 361f.

30 J. Ratzinger, Schauen auf den Durchbohrten, 45.

31 Ebd.

32 Ebd., 78.

33 Bonaventura, Itin. I,15 (V 299). „Wenn das Wort nicht im Ohr des Herzens tönt, der Glanz im Auge leuchtet, der Duft und das Ausströmen des Allmächtigen im Geru­che ist, die Süße im Geschmack, die Ewigkeit die See­le erfüllt, dann ist der Mensch nicht bereitet, die Schauge­sichte zu erkennen“ (Hex III,22).

34 A. Görres, Glaubensgewißheit in einer pluralisti­schen Welt, in: IkaZ 12 (1983) 129.


35 J. Splett, Mehr als ein Buch, in: GuL 66 (1993) 355.

36 J. Ratzinger, Der Gott Jesu Christi, 36.


37 Enzyklika DEUS CARITAS EST von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, an die Prie­ster und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an die Christgläubigen über die christliche Liebe. Bonn 2006.

38 Vgl. auch die Werke von H.U. von Balthasar, Glaubhaft ist nur Liebe. Einsiedeln 1963; ders., Eros und Agape, in: StdZ 69 (1939) 398-403.

39 Vgl. A. Schmemann, Aus der Freu­de leben. Ein Glaubensbuch der orthodoxen Christen, Köln 22003, 91-108, hier 92.

40 Vgl. W. Kasper, Glaube und Geschichte. Mainz 1970, 340.

41 Vgl. F. Böckle, Art. „Ehe und Ehescheidung“, in: Handbuch der christlichen Ethik. Bd. II, Freiburg-Gütersloh 1978, 121.


42 W. Kasper, Glaube und Geschichte, 343f.

43 Vgl. ebd., 345.

45 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Januar 2006, 1.

46 So Papst Benedikt vor dem Kongreß des päpstlichen Hilfswerks „Cor unum“ am 23. Januar 2006; vgl. Deutsche Tagespost v. 26. Januar 2006, 6.

47 J. Ratzinger, Weggemeinschaft des Glaubens, 45.


48 Ebd., 46.

49 Ebd.

50 Ebd.


51 Eine solche „Gü­tergemeinschaft“ wäre auch ei­gens angesichts der finanziellen Situati­onen einzelner Bistümer in Deutschland bzw. bei der Zusammenlegung von Ge­meinden zu bedenken.

52 P. Evdokimov, Eucharistie – Mystère de l’église, in: La pensée orthodoxe 13 (1968) 53; zit. nach U. Baumann, Die Ehe – ein Sakrament? Zürich 1988, 276.
53 Vgl. J. Cor­bon, Liturgie aus dem Urquell. Einsiedeln 1981, 92.


54 J. Ratzinger, Auf Christus schauen, 56f.


55 H.U. von Balthasar, Der Mensch und das Ewige Leben, in: IkaZ 20 (1991) 3-13, hier 9.


56 J. Ratzinger, Auf Christus schauen, 59f.

57 Ebd., 94f.


58 Ebd., 82.

59 Y. Congar, Chrétiens désu­nis. Principes d’un „oecume­nisme“ catholique, Paris 1937, 47.

60 Vgl. V. Lossky, Die mysti­sche Theologie der mor­genländi­schen Kirche. Graz-­Wien‑Köln 1961, 28f.


61 Vgl. V. Lossky, Weg der Einigung, in: EuA 46 (19­60) 438.


62 Zit. nach B. Raspels, Freund und Kenner orthodoxer Theologie, in: Kölner Kirchen­zei­tung Nr. 21 (2005) 16.

63 J. Ratzinger, Vom Wiederauffinden der Mitte, 188.

64 Zit. nach B. Raspels, Freund und Kenner orthodoxer Theologie, 16.


65 Vgl. zum folgenden J. Ratzinger, Vom Wiederauffinden der Mitte, 181-194; auch J. Wohlmuth, Anwalt der Einheit. Der Theologe Joseph Ratzinger und die Öku­me­ne, in: Der christliche Osten 60 (2005) 265-278. – Weitere Studien zur Öku­mene in: J. Rat­zinger, Das neue Volk Gottes, 105‑120.225-245; ders., Theologische Prinzipi­en­lehre, 203‑214.

66 J. Ratzinger, Einführung in das Christentum, 328.
67 J. Ratzinger, Kirche, Öku­me­ne und Politik, 130.

68 Ebd., 190. Vgl. R. Erni und
D. Papandreou, Eucharistie-
gemeinschaft. Der Stand­punkt der Orthodoxie, Fribourg 1974, 68-96, hier 91f.
69 Ebd., 130f.


70 Ebd., 131.


71 J. Ratzinger, Weggemeinschaft des Glaubens, 223.

72 Ratzinger führt aus: „Es darf nicht als Wahrheit auferlegt wer­den, was in Wirk­lichkeit geschichtlich gewachsene Form ist, die mit der Wahrheit in einem mehr oder weniger engen Zu­sammenhang steht. Gerade wenn also das Gewicht der Wahr­heit und ihre Unverzichtbarkeit ins Spiel gebracht wird, muß dem auch eine Redlichkeit entspre­chen, die sich vor vorschneller Inanspruchnahme der Wahrheit hütet und nach der inneren Weite des Wahren mit den Augen der Liebe zu suchen bereit ist“ (J. Rat­zinger, Vom Wiederauffinden der Mitte, 187).
73 Wahrheit gibt es nicht im Plural.


74 J. Ratzinger, Zur Lage der Ökumene, in: J.-L. Leuba (Hg.), Perspectives actuelles sur l’oecuménisme. Louvain-la-Neuve 1995, 231-244, hier 233f.
75 Ebd., 223.

76 J. Ratzinger, Zum Fortgang der Ökumene. Ein Brief an die Theologische Quartal­schrift, Tübingen, in: ders., Kirche, Ökumene und Politik, 128-134, hier ­130.

77 „Ich bin überzeugt, daß wir ‑ erlöst von dem Erfolgszwang des Selbstma­chens und von seinen geheimen und offenen Terminen ‑ uns schneller und tiefer näherkommen werden, als wenn wir anfangen, Theologie in Diplomatie und Glaube in ‚Engagement‘ umzuwandeln“ (ebd., 134).
78 Ebd., 132f.
79 Es geht also darum, „Gott zu lassen, was allein seine Sache ist, und zu er­kun­den, welches dann aber in allem Ernst unsere Aufgaben sind“ (ebd., 133).
80 Ebd.


81 Ebd.

82 Ebd. 131.


83 Ebd.

84 Ebd. – Ratzinger bemerkt sogar: „Könnte man sich eigentlich eine nur protestantische Welt denken? Oder ist der Protestan­tis­mus in all seinen Aussagen, gerade als Protest, nicht so vollständig auf den Katholizismus bezogen, daß er ohne ihn kaum noch vorstellbar bliebe?“ (ebd., 132).
85 Vgl. J. Ratzinger, Vom Wiederauffinden der Mitte, 182.
86 Vgl. ebd., 184.
87 Ebd., 188. Gerade in und mit der Feier der Liturgie bleibt für die Kirche in Ost und West die Idealgestalt ­gewahrt.

88 So in einem Interview der Zeitung „Deutsche Tagespost“ vom 29. Oktober 2005, 5.


89 Vgl. J. Ratzinger, Vom Wiederauffinden der Mitte, 184.

90 Ebd., 189. – Er führt hierzu weiter aus: Es bedürfe trotz aller Differenzen in Ost und West der Einsicht, „daß Einheit ihrerseits eine christliche Wahrheit, ein christlich We­sentliches ist und daß sie in der Rangordnung so hoch steht, daß sie nur um des ganz Grundlegenden willen geopfert werden darf, nicht aber, wo Formulierungen oder Praktiken im Wege sind, die noch so bedeutend sein mögen, aber die Gemeinschaft im Glauben der Väter und in seiner kirchlichen Grundgestalt nicht aufheben“ (ebd.). Vgl. auch L. Bouyer, Réflexions sur le rétablissement possible de la communion entre les Eglises orthodoxe et catholique. Perspectives actuelles, in: Koinonia. Premier Col­loque ecclésiologique entre théologiens orthodoxes et catho­liques, Paris 1975, 112-115.

Michael Schneider

Die theologischen Grundanliegen Papst Benedikts XVI.

Die Studie „Einführung in die Theologie Joseph Ratzingers“ über die theologischen Grundanliegen Papst Benedikts XVI. stellt in ei­nem ersten Kapitel (9-77) den personalen Ansatz seines Schrifttums vor, und zwar in kri­tischer Aus­einan­­der­setzung mit dem modernen Weltbild, dem neuzeitlichen Pragmatismus und dem ge­gen­wärtigen Verständnis der Heilsbedeutung Jesu, wie es in der Exegese entfaltet wird. In Ab­set­zung von irrigen Konstruktionsprinzipien wird neu nach dem wahren Jesus gefragt und dabei das Anliegen der kanonischen Exegese und einer concordantia testamentorum aufgegriffen. Es zeigt sich, daß Joseph Ratzinger mit dem Ansatz einer relationalen Ontologie die Grundaus­sa­gen der Schöp­­fungslehre und Christologie vertieft. Christus, der neue Adam, ist das wahre „exemplum“, der eigentliche Mensch, die wahre Vollendung menschlichen Daseins. Diese gläu­bige Sicht des Menschen leitet sich von keinem abstrakten „dialogischen“ Prinzip ab, sie grün­det in der Trinitätstheologie: Gott, der in sich selbst Relation ist, offenbart sich in seinem Sohn, der dem Menschen, nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen, göttliches Leben eröffnet. Jo­seph Ratzinger nimmt immer wieder das Gespräch auf mit dem neuzeitlichen Denken und den an­­deren Religionen auf, um zu zeigen, daß es „vernünftig“ ist, an Chri­stus zu glauben. Der Glau­­be ist mehr als ein Ge­fühl oder etwas Irratio­nales, er schenkt die tiefste Einsicht in den Sinn al­len Lebens. Im Werden der Zeit, also in der Geschichte, gibt es ein Ereignis, das alles über­trifft, was der Mensch selbst machen oder aus evolutiven Gesetzmäßigkeiten abgeleitet und er­klärt werden kann. Der Prozeß des Werdens verläuft nicht in eine vage Zukunft, er hat ein Ge­sicht, nämlich das Antlitz des auferstandenen und wiederkehrenden Christus. Seine Erlösungstat hilft dem Menschen auf, wo er selbst nichts mehr machen und herstellen kann und seine eigene Schuldhaftigkeit restlos verstrickt ist. – Beide Ansätze, nämlich die kritische Auseinan­der­set­zung mit der Zeit wie auch das christologische Anliegen, münden für Joseph Ratzinger in dem Postulat, neu nach dem wahren Jesus von Nazareth zu fragen. Dazu bedarf es einer „Kritik der Kritik“, vor allem ­der historisch-kritischen Methode in der Exe­gese, um erneut in der Aus­legung der Heiligen Schrift, also beider Testamente, zu einem authentischen Bild Christi ge­langen zu können. Einen möglichen Neuansatz findet Joseph Ratzinger eben in der kanonischen Exegese, die für ihn ein über­zeugendes Modell theologischer Schriftaus­legung bereithält.

In einem zweiten Kapitel (78-143) wird das Grundanliegen einer „spirituellen Christologie“ angesprochen und entfaltet, das Joseph Ratzinger unter dem „Primat des Logos vor dem Ethos“ und in Auseinandersetzung mit dem Neuchalkedonismus ausführt. Zwei Per­spektiven des Jesus­bildes werden entworfen, nämlich der „betende Jesus“ und der „pneu­matische Christus“. Joseph Ratzinger stellt seine „Spirituelle Christologie“ unter die For­derung der Vernünftigkeit. Die ethi­sche Vi­sion des Christentums sollte aus dem Innern des Glaubens, nicht als Katalog von Pflich­ten und Verboten entfaltet wer­den. Unter dem Pri­mat des Logos vor dem Ethos offenbart sich Gott als ein Freund der Wahrheit und der Vernunft. Alles im christlichen Glauben und Leben ist unter dieses Prinzip zu stellen, denn alles folgt aus dem Sein: Wer in Christus eine Neu­schöp­fung geworden ist, hat nicht nur freien Zugang zu Gott, sondern kann selbst ein „geistliches“, d.h. „göttliches Le­ben“ führen. Der mensch­gewordene Gottessohn eröffnet dem Menschen mehr als eine Verhaltensweise, er schenkt ihm eine neue Begegnung mit dem Sein Gottes. Die Lehre Chri­sti ist er selbst, aber in voll­kommener Hin­ordnung auf den Vater. So tritt neben das Prinzip des Logos, der Vernunft bzw. Vernünftigkeit, ein zweites, nämlich das der Relation. Wollen und Denken Jesu stehen in Einheit (koinonia) mit dem Vater, wie sich besonders im Beten des Soh­nes zeigt. Wer in die „communio“ mit ihm tritt, findet zu einer neuen „communio“ mit den ande­ren, zu denen er sich gesendet weiß. Sie hat ihren Grund in der Gemeinschaft al­ler Glaubenden in der Kirche, die der Leib Christi ist.
Um das ekklesiologische Anliegen geht es in einem weiteren Kapitel (144-224) unter dem Titel „Kirche – Leib Christi“, und zwar zunächst unter den Stichworten: „lebendige Offenbarung“, „Heilige Schrift“ und „auc­toritas“. Die Einheit des Volkes Gottes gründet im Mysterium des Leibes Christi, das das Ge­heimnis der Kirche wie auch jedes Christen ausmacht. Ausdruck der sakramentalen Ver­faßt­heit der Kirche ist das Amt, vor allem das des Bischofs. Seine Ortskirche ist hinein­ge­nom­men in die Universalkirche, wie auch in jeder Eucharistiefeier die ganze Kirche gegen­wär­tig ist. Mit der Gründung der Kirche an Pfingsten ist schon von Anfang an ihre Uni­ver­salität und Ka­tho­lizität gegeben, da sie als solche im präexistenten Mysterium der „ecclesia ab Abel“ erwählt wur­de. Das letzte Abendmahl ist insofern der Ursprung der Kirche, als in ihm ihr Grund­geheim­nis ein­gesetzt wurde, nämlich die Eucharistie. Aus ihr leitet sich der Primat gött­lichen Handelns in der Feier der Messe ab, denn Christus ist das „geistige Opfer“, das uns mit dem Vater ver­söhnt hat. Wer in dieses Opfer eintritt, ist eine neue Existenz und steht in ei­ner neuen Ge­mein­schaft mit Gott und den Menschen. Die Eucharistie enthält inkarnatorische, kosmische und ka­tholische Dimensionen, ihre tiefste ist aber das Mysterium des Leibes Chri­sti.
In den weiteren Ausführungen geht es um die praktischen Konsequenzen des dargelegten theo­logischen Ansatzes Jo­seph Ratzingers, die im vierten Kapitel der Studie entfaltet werden (sie schließt mit der Erhebung des Ertrages: 271-279):

IV. LEBEN AUS DEM GEIST (Seite 225-270)
Die geistlichen Implikationen des vorge­legten An­satzes im theologischen Werk Rat­zingers sind zu verstehen als eine Kon­­kre­tisierung jenes inkarnatorischen Grundanliegens, das bei Joseph Rat­zin­ger aufs engste mit der Schöpfungstheologie verbunden ist.

1. Göttliches Leben
Im Laufe der westlichen Theo­lo­gie­geschich­te kam es zu einer Kon­zen­tra­tion auf das Thema der Heils­geschichte unter weitest­gehen­der Ausblen­dung des Schöp­fungs­gedan­kens, ja, zu einer fast duali­sti­schen Unter­schei­dung von Gott und Schöp­fung, die derart radikal war, daß sie in die Nähe eines Deismus rückte oder in das Konzept einer gott­losen Welt zu führen schien. In der Schöp­fungs­theolo­gie blieb es letztlich nur bei dem Satz, daß alles in Gott seine erste Ursa­che hat. Schließlich traten Schöp­fung und Kos­mos so sehr an den Rand theologi­schen Mühens und allge­meiner Fröm­mig­keit, daß der Glaube in die Falle der bloßen Inner­lichkeit und Sub­jekti­vität zu ge­raten drohte. Auch kam es, gerade in der Auseinander­setzung mit der Evolu­tions­theo­rie, zur Ver­engung der christli­chen Pro­tologie auf die Schöp­fung im Anfang („creatio origina­lis“) und auf den Aspekt des gött­li­chen „Schaffens“.1 Die Lehre vom gött­­lichen „Ma­chen“ bzw. die Lehre von der fort­gehenden Schöp­­fung („crea­tio nova“) wurde kaum themati­siert. Viel­mehr wurde die „Schöp­fung im Anfang“ ver­standen als eine ferti­ge und vollkom­mene Schöpfung, die kei­ner weiteren Ent­faltung und Evolu­tion be­darf, wie auch das Wort „Schöp­­fung“ durch sei­ne Endsilbe eher einen abge­schlossenen Vorgang am An­fang als einen Prozeß des Schaf­fens insi­nuiert. Vom Menschen schien dasselbe zu gelten: Als einmal geschaf­fe­nes und damit ferti­ges We­sen ist er keiner weite­ren Evolu­tion unter­wor­fen. Kurz gesagt, in der Schul­theolo­gie blieb es nicht aus, daß das Verhält­nis Got­tes zu seiner Schöp­fung zeit­weilig zu ein­seitig auf die Frage der Kausa­lität be­schränkt wurde.
Martin Heidegger zitierend, wendet Yannaras ein: „Zu diesem Gott (‚causa sui‘) kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der causa sui kann der Mensch weder aus Scheu auf die Knie fallen noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen. Demgemäß ist das gottlose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott der causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher.“2 Werde – so meint Yannaras – die Beziehung zwischen Gott und dem Kos­mos nicht vorrangig per­sonal, sondern vorrangig als Be­ziehung von Ursache und Wirkung verstanden, so werde Gott abgetrennt von der Welt, und die Welt werde verselbstän­digt.
Ganz anders die ursprüngliche Sicht der Schöp­fung, die bis heu­te dem Osten eigen ist. Für die Hei­lige Schrif­t ist nicht der kausale Begründungs­zu­sammenhang der Schöpfung entschei­dend, son­dern die Ein­woh­nung Got­tes, wie sie durch sein Aus­ruhen in der Schöp­fung zum Aus­druck kommt (vgl. Gen 2,2f.). Der siebte Tag des vollendeten Schö­p­fungs­werkes ist der Tag der Offen­ba­rung der Herrlichkeit Gottes am Sinai (vgl. Ex 24,16): „Erst vom Sinai her wird […] erkennbar, was mit Gottes Schöp­fungs­han­deln ‚am An­fang‘ inten­diert war und d.h.: wozu Gott die Welt erschaffen hat: nämlich dazu, Gemein­schaft mit dem Menschen/Israel zu ha­ben.“Schließlich kennt die Prie­ster­schrift „eine dynami­sche, sich selbst über­steigende und auf ein un­ge­ahn­tes Escha­ton hin­steuernde Geschich­te“4, deren Ziel das „Woh­­nen“ des Schöp­­fer­gottes in­mitten seines Volkes ist. Wie ist diese univer­sale Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung bis zum Ende der Zei­ten genauer zu verstehen?5
Damit der Mensch wieder alle Din­ge der Erde als Ikone Got­tes erkennt, heilt Christus vor sei­nem Heimgang zum Vater die kranken Sinne des Menschen, den Blinden, den Lah­men, den Tau­­­­ben, den Stummen, und heilt so d­­en Mangel menschli­chen Da­­seins­, da­mit der Ge­heil­te wie je­der sei­ner Sinne Mäch­tige aus in­nerem Erkennen und aus der Klar­heit seines kreatürlichen Ur­teils Ja sagen kann zu Je­sus.
Durch die Wieder­her­stellung seiner leibhaften Sinne er­hält der Mensch jene Wachheit im Gei­st zurück, die ihn er­kennen läßt, daß nur härte­ste Wirk­lich­keits­bezogen­heit ­zum Glau­ben führt. Die rei­che Entfal­tung der Sinne zielt auf kein Genie­ßen wie beim Schlem­mer, son­dern auf die Differen­zierung und krea­tür­liche Ein­übung in die Unter­schei­dung der Gei­ster. Das Geschenk der ge­heil­ten Krea­tür­lich­­keit befähigt den Men­schen, seinem Herrn in sei­nem Leben „leibhaft“ zu antworten. Joseph Ratzinger stellt kritisch fest: „Wenn viele sagen, daß eine leiblose Seele zwi­schen Tod und Auferstehung ein Unding sei, so haben sie offenbar der Heiligen Schrift nicht genau genug zugehört. Denn nach der Himmelfahrt Christi gibt es das Problem der Leiblosig­keit der Seele nicht mehr: Der Leib Christi ist der neue, nun nicht mehr verschlossene Himmel. Wenn wir selber Glieder am Leib Christi geworden sind, dann sind unsere Seelen in diesem Leib festgehalten, der ihr Leib geworden ist, und so warten sie der endgültigen Auferstehung entgegen, in der Gott alles in allem sein wird. Diese Auferstehung am Ende der Geschichte aber ist etwas wirklich Neues.“6
Gotteserkenntnis und -begegnung sind für Joseph Ratzinger kei­ne Fra­gen der Theo­rie, sondern der Lebenspraxis. Menschwerdung Got­­­­tes heißt, daß sich der Gehorsam des Sohnes ge­genüber dem Wil­len des Vaters in die Welt und in eine konkrete Le­bens­­form inkarniert (vgl. Hebr 10; Ps 40 [39],7-9): Die höchste Erfüllung des Glaubens ist seither nicht mehr das Hören, son­dern die „Fleischwerdung“: „Theologie des Wortes wird zur The­­ologie der In­kar­nation. Der Sohn tritt in seiner Hingabe an den Va­ter aus dem innergöttlichen Gespräch heraus, indem sie zur Hin­einnahme und Hingabe der im Menschen zusammengefaßten Schöpfung wird. D­er Leib, richtiger: das Menschsein Jesu ist Pro­­dukt des Ge­hor­sams, Frucht der antwortenden Liebe des Soh­nes; er ist gleichsam konkret gewordenes Gebet. Das Mensch­sein Jesu ist in diesem Sinn schon ein ganz geistiger Sachver­halt, von sei­nem Herkommen her ‚göttlich‘.“7
Die Theologie des Leibes ist bei Joseph Ratzinger auf dem Hintergrund seiner Schöpfungs­theologie zu verstehen. Mit Bonaven­tu­ra teilt er die Ansicht, daß der Glaube in seinem univer­salen Heilsan­spruch­ erfahren wird, sobald der Mensch er­kennt, daß alles, was ist, von Gott dem Schöpfer kommt. ­Wird aber das Le­ben im Glauben auf das subjektive Ge­fühl der Innerlichkeit re­du­ziert, so daß jeder emp­finden und denken kann, was er will und mag, löst sich die christ­liche Spiritualität von der objektiven Welt der Ma­te­rie. Das Leben des Glaubens ­wird dann dem Bereich des rein Persönlichen zugeordnet und erscheint schließlich als Vertröstung oder Ver­­grämung menschlicher Existenznot. Ganz anders der biblische Glaube, wie er in der Bot­­schaft von der unbefleckten Empfängnis Mari­ens und vom lee­ren Grab zum Ausdruck kommt: Gott kann in der Welt Neu­es schaffen und in die Welt des Leibes ein­grei­fen. Die Ma­te­­rie ist Gottes, weil von ihm ab­künftig. Gott läßt sich nicht auf die In­ner­­lichkeit menschlicher Subjektivität reduzieren, als ob er seinen Platz im Emo­ti­o­nal-Subjektiven hät­te, während die Welt der Materie ande­ren, letzt­lich eigenen Geset­zen ge­horcht
Mit diesem christologischen Ansatz finden sich im theologischen Werk Ratzingers zahlreiche Parallelen und Verweise zu Enzykliken seines Vorgängers im päpstlichen Amt. In der Pa­sto­ralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gau­dium et spes“, an der Kardinal Karol Wojtyla wesentlich mit­gearbeitet hat, heißt es: „Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft“ (GS 22). Mit der Inkar­nation des Gottessohnes erhält die Geschichte der Menschheit ihren unüberbietbaren Höhe­punkt. Papst Johannes Paul II. schreibt 1979 in seiner Enzy­k­lika „Redemptor hominis“: „In die­ser Heilstat hat die Ge­schichte des Menschen, so wie sie in der Lie­be Gottes geplant ist, ihren Höhepunkt er­reicht. Gott ist in die Menschheitsge­schichte eingetreten; als Mensch ist er Subjekt dieser Geschichte geworden, einer von Milliarden und gleichzeitig dieser eine“ (Nr. 1). Der Men­schensohn tritt in die Geschichte eines jeden Menschen ein, um ihn seine außergewöhnliche Größe und Wür­­de vor Gott entdecken zu las­sen. Papst Jo­hannes Paul II. führt in seiner En­zyk­li­ka weiter aus: „Christus ist mit jedem Men­­schen, ohne Aus­nahme, in irgend­einer Weise ver­bunden“ (Nr. 14). Je­der Mensch ist berufen auf „den Gipfel, der Gott selber ist“, um nach Gottes Bild und Ihm ähn­lich ­­sein Leben zu füh­­ren.
Gott tritt nicht von außen in die Lebenszeit des Menschen ein. Au­gu­stinus spricht vielmehr da­von, daß Gott den Men­schen auf sei­nem geistlichen Weg wie ein „Lehrer“ von innen her leitet und führt: „So sollen wir nicht nur glauben, sondern auch zu ver­­stehen beginnen, mit wieviel Recht uns die göttliche Au­to­rität ver­boten hat, ir­gend jemand auf Erden unseren Lehrer zu nen­nen, da es doch nur einen einzigen Lehrer unter allen gibt, der im Himmel ist. Er selbst ist es, der uns belehrt, er, der uns durch die Menschen mit Hilfe äuße­rer Zeichen un­ter­weist, damit wir, nach ihnen zu ihm zurückgekehrt, uns sei­ne Lehren zu ­eigen ma­chen.“8 Was der einzelne aus seinem Le­ben macht, welchen Weg er einzuschlagen und wie er in der Zeit zu leben hat, ist ihm ins Herz geschrieben, und dort hat er es zu suchen und zu ent­ziffern.
Im Hören auf den „inwendigen Lehrer“ lernt der einzelne, sein Leben dem Geist Jesu anzu­gleichen. Hierzu schreibt Romano Guardi­ni: „In jedem Christen lebt Christus gleichsam sein Leben neu: er ist zuerst Kind und reift dann heran, bis er das volle Alter des mündigen Chri­sten erreicht. Darin aber wächst er, daß der Glau­be wächst, die Liebe erstarkt, der Christ sich immer klarer seines Christseins bewußt wird und mit immer größerer Tiefe und Verantwortung sein christliches Dasein lebt.“9 Mit Bezug auf Eph 4,13 bemerkt Romano Guardini über das Heran­reifen der Glau­benden zum Vollal­ter Christi: „Un­erhörter Gedanke! Erträg­lich nur im Glauben, daß Chri­stus wirklich der Inbegriff ist; und in der Liebe, die mit ihm eins werden will. Oder wä­re der Gedanke, mit einem zusammengefügt zu sein – nicht nur ver­bunden im Leben und im Tun, sondern in eins gewachsen in Sein und Selbst – zu ertra­gen, falls er nicht als Jener geliebt wür­de, durch den ich mein ei­gentli­ches Ich finde, das des Kindes Gottes und mein eigentliches Du, nämlich den Vater?10 Der „alte Mensch“ wird vom „neuen Menschen“, der „aus Christus  gebildet“ ist, über­wunden, denn Christus wohnt der Lebenszeit eines jeden ein. In Eph 3,17 heißt es hierzu: auf „daß Chri­stus durch den Glauben in euren Herzen wohne und daß ihr in der Liebe fest ver­wurzelt und gegründet seid“. Das innere Form­gesetz menschlichen Daseins wie auch der ganzen Ge­schichte ist dem­nach das Leben Jesu.
Joseph Ratzinger stützt den Ansatz seiner Geschichtstheologie auf ­Bonaventura, für den das Ver­bum incarnatum die Mit­­te ­aller Zeitabläufe ist. Anders als bei Augustinus, über den er seine Dok­torarbeit schreibt, heißt es in Ratzingers Habi­lita­tionsschrift: „Für das augustini­sche Sche­ma ist Christus der Zeiten Ende, für das bo­naven­turani­sche ist er der Zeiten Mit­te.“11 Chri­stus setzt in und mit seinem Leben das Höchst­maß aller ­Erfüllung in der Zeit: „Bo­naventura glaubt an ein neues Heil in der Geschichte, in­­nerhalb der Gren­zen der Welt­zeit. Die­se schwerwiegende Wand­­lung des Ge­schichtsver­ständ­nis­ses wird man als das ge­schichtstheologi­sche Zentral­pro­blem des Hex­aë­meron bezeichnen müssen.“12
Das Christentum steht in einer Geschichte, in die das Göttli­che selbst verflochten ist, ja, sie ist eine göttliche Geschichte. Der christ­liche Glaube erschöpft sich nicht in einer Lehre, sondern ist Wirklichkeit, Sache mit objektiver Seinsmacht. Denn mit der In­kar­na­ti­on­ wird eine neue Zeit­­dimension der Geschichte ­of­fen­bar. Das Le­ben Jesu verläuft klein und par­tikulär: in ei­nem kleinen Land, an unbedeu­ten­den Or­ten, mit ei­ner öffentlichen Ver­kün­digungs­tätigkeit von höch­stens drei Jahren, Er­mor­­­dung in jungem Alter. Jesus war kein Gelehr­ter, kein Pro­fes­sor, kein Prie­ster, kein Ge­nie. Von die­sem partikulären Jesus be­ken­­nen wir, er sei von zen­traler und uni­versaler, eschato­lo­gi­scher und kosmi­scher Bedeu­tung.13 In der Mensch­wer­dung des Got­tes­soh­nes und in den Jah­ren seines ver­borgenen und öf­fentli­chen Le­bens, im Kreuzes­tod und in der Aufer­ste­hung des Menschensohnes ist Gott in die Ge­schich­te­ ein­gegangen, so daß die Alltäg­lich­keit menschlichen Lebens in die ewige Ge­schich­te des drei­einigen Le­bens aufge­nom­men ist.
Die Berechtigung für ein solches Zeitverständnis ergibt sich aus der überzeitlichen Bedeutung der Menschheit Je­su. Die Zeit des Herrn in Naza­reth, sein Aufenthalt im Tem­pel, der Emp­fang der Taufe durch Jo­hannes, sein Leiden am Kreuz und sein Sieg in der Auf­er­ste­hung las­sen in der Zeit für immer die gött­liche Wahrheit offenbar wer­den. Einmal als Mensch gebo­ren, bleibt Christus das ewige Kind, das alle For­men und Sta­dien sei­nes irdi­schen Kindseins in die Ewig­keit aufge­hoben und geret­tet hat, denn schon seine irdische Kindheit ist eine Offen­barung sei­ner himmlischen. Gleiches läßt sich von seinem ganzen Leben sa­gen, bis hin zum Tod am Kreuz: Er hängt nicht mehr am Kreuz, aber sein Tod und seine Himmel­fahrt führen zum Durch­­bruch der Zeit in die Ewigkeit und des Ewi­gen ins Zeit­liche.
Mit dem Kommen des Menschensohnes und seinem Heilswir­ken, besonders aber durch seinen Kreu­zes­tod und seine Aufer­stehung ist unsere ­Zeit in die Ewi­gkeit des dreifalti­gen Le­bens auf­genommen. Wäh­rend in der Mensch­werdung des Got­tes­soh­­nes das Ewige in die Ge­schich­te ein­getreten ist, wird die­se durch Auf­erste­hung und Him­mel­fahrt ­in die Ewigkeit auf­­ge­nom­men: „Durch das Grab hin­durch […] ist Ge­schichte in ihm zur Ewig­keit geworden.“14 Der Aufer­stan­de­ne nimmt „ge­wis­serma­ßen das in­nerste Leben der Erde, der Schöp­fung, mit, an der er teilge­habt hat“15. Der zum Him­mel Ge­fahrene hat die Zeit fortan für immer in sich, ohne sich vom Ge­lebten je zu tren­nen. Weil der auf­er­standene Got­tes­sohn die Zeit in sei­ne Ver­herrli­chung beim Va­ter mit­­genom­men hat, gibt es für den, der glaubt, kein quan­ti­ta­tives, chro­no­lo­gi­sches Zeitverständ­nis ­mehr. Seit der Menschwerdung und Auferste­hung des Gottessohns ist alles im Leben ­des Menschen „ewig­­keitsfä­hig, weil imm­er schon ewig­keitshal­tig“16.
Die Geschehnisse unmittelbar nach der Aufer­stehung sagen nicht nur etwas über den zu seinem Vater heimgekehr­ten Herrn im Him­mel, sondern auch über sein neues Verhältnis zur Welt und zur Zeit. Die vierzig Tage nach Ostern mit ihren Ereig­nissen be­deuten die abschließende Ver­gött­li­chung seiner Sen­dung und enthal­ten ihr Hinüber in die Ewig­keit des Vaters. Ohne die Himmel­fahrt wäre das Leben Jesu den histo­rischen Gesetz­mäßigkeiten un­terworfen­, als gäbe es für immer wirklich ein „heili­ges Land“ mit hei­ligen Stätten, und ­­auch die Zeit­genossen Jesu blieben gegen­über den Spä­te­ren be­vor­zugt. Doch in der Feier des Her­renjahres und der Eucha­ri­stie wie auch bei der Verkündi­gung und Auslegung der Heiligen Schrift kommt das zum Himmel gefahre­ne Wort erneut zu den Men­schen und ist unter ihnen ge­genwär­tig.17
Der Menschensohn gibt den Lebenszeiten des Menschen, in die er während seines irdischen Daseins selbst eingetreten ist, eine besondere, ja, neue Bedeutung, denn sie werden nicht nur zu ei­nem Ausdruck göttlicher Offenbarung, sondern auch göttli­cher Angleichung18: „Wenn Gott Mensch wird, so wird der Mensch als solcher Ausdruck, gültige und authentische Übersetzung des göttlichen Mysteriums. Gewiß braucht der Mensch den übernatürlichen Glauben, um zu fas­sen, was der souverän freie Gott ihm in einer spontanen Selbst­offenbarung kundtun will. Ande­rerseits aber bleibt dieser gött­liche Sinn dem Menschen, der ja ge­wählt ist, ihn auszudrücken, nicht äußerlich und fremd.“19 Got­tes Offenbarung tritt nicht äußerlich in das Leben des Men­schen ein, noch bleibt sie eine rein abstrakte Leh­re­, vielmehr ist sie mit der Menschwerdung des Gottessohnes zum innersten Ge­setz mensch­licher Existenz überhaupt geworden.
Die Ge­genwart des Gottesreiches in der Zeit zum Aus­druck zu brin­gen, dies ist der Inhalt der christlichen Exi­stenz in der Geschichte. Wie solches auf vollkommene Weise ge­schieht, zeigt sich im Leben der Heiligen: „Der Auf­trag eines jeden Hei­li­gen ist es, ein be­stimm­tes Anliegen seiner Zeit von der Ewigkeit her, aus dem Wis­sen um Chri­stus, zu ergrei­fen und zu bewältigen; in­dem er das Zeit­liche mit Ewi­gem erfüllt, erhebt er die Zeit und Geschichte zum Ruhm des Herrn; daß die Zeit den Herrn rühme, ist die Sehn­sucht der Heili­gen.“20 Dadurch, daß der Heilige in der Unmittelbarkeit mit Christus lebt, trägt er wesentlich zur fortschreitenden Wirk­mächtig­keit des Evange­liums in der Zeit bei, eine Wirk­samkeit, die sich über den Tod des Hei­ligen hinaus fort­setzt.
Gewiß, die Offenbarung ist mit dem Tod des letzten Apostels ab­ge­schlossen, aber der Heilige Geist wirkt weiterhin, nicht weil sich Got­­tes ­­­Wort weiter entfaltet­­, sondern „ad directionem ac­tuum huma­norum“, wie Thomas von Aquin lehrt21, also um dem Fortschritt im Leben des ­Chri­sten zu die­nen. Aber hier bedarf es einer wichtigen Differenzierung. Das Leben ­der Kirche ähnelt in keiner Weise dem, wie Is­rael in der Geschichte seinem Gott be­geg­net; denn ­seit dem Kommen Christi kann es nichts mehr geben, was absolut neu ist. Auch wenn am Ende der Zei­ten der Schleier, der auf den sichtbaren Zeichen liegt, ge­nommen ist, wird die Wirklichkeit dann keineswegs größer sein als jene, die jetzt schon, wenn auch ver­borgen, in der Feier der Liturgie gegenwärtig ist. Die himmlische Li­turgie ist die glei­che, die von der Kirche hier und jetzt gefeiert wird.
Alles im mensch­lichen Dasein entscheidet sich, wie Ratzinger betont, an der Frage nach Gott: Ist er ein Gott der Lebenden oder der Toten? Dies gilt auch für die Verkündigung und die Feier der Sa­kramente: Würde es hier nur um das Vermächtnis eines historischen Jesus ge­hen, blieben der Gottesdienst und die Mes­se bloß Ritual und Ausdruck von Ge­meinschaft, so daß sich der Glau­be auf die Dimensionen von Erlebnis und Gefühl re­du­zieren ­ließe. Aber in der Feier der Li­turgie verkündet die Kir­che die Gegenwart je­nes göttlich-dreieinen Myste­riums, das in und mit der Mensch­werdung des Gottessohnes in die Ge­schichte eingetreten ist und sie mit seiner Auf­erstehung unüberbietbar voll­en­det hat.

2. Leibhafte Gebärde
Die weiteren geistlichen Implikationen aus dem theologischen Werk Rat­zingers ergeben sich als eine Kon­­kre­tisierung jenes inkarnatorischen Grundanliegens, das ­­er mit Bonaventura teilt. Der Ansatz beim Leib und der konkreten Glaubenspraxis des Alltags erklärt sich bei Joseph Rat­zinger aus sei­nen frühen Stu­dien zum Werk Bonaventuras. Wie es von der Seele heißt: „anima vult, totum mun­dum de­scribi in se“, so ist gleiches auch vom Leib zu sagen. Ja, es gilt noch mehr: Der Leib ist das Ende der Wege Gottes, und ohne den Leib gibt es keinen Glau­ben! Des­halb sollen die Gläubi­gen, wie Bona­ven­tura dar­legt, „durch ihr Tun sicht­bar wer­­den las­sen, daß sie durch den Glauben zur Er­kenntnis der Wahr­heit ge­­langt sind“22. Sol­ches Erken­nen im Tun über­steigt alles blo­ße Be­grei­fen, denn es geht um ein Er­grif­fen­sein, das einer Ek­­stase gleich­kommt: „Im Be­grei­fen er­greift der Er­ken­nende das Er­kann­te, in der Ekstase aber er­greift das Er­kannte den Er­ken­nen­den­.“23 Ek­sta­se wird für Bo­naven­tura zur Urform christ­lichen Lebens, sie ist die ein­zig mit­teil­bare Ge­stalt des Glau­bens. In dem Au­gen­blick­, da der Mensch in der Kraft seiner Sehn­sucht un­mittelbar ­in die Ge­schichte Jesu eintritt und sich vom Vor-Bild (exem­plar) Christi prä­gen läßt, wird sein Leben aus dem blo­ßen Gedan­ken er­löst in das Tun. Der Mensch wird selbst zum Bildstoff der kreatür­li­chen Men­sch­werdung. Dann wird sich das Le­ben Jesu im Le­ben des Men­schen „­ein­drücken“, so daß der Mensch zum „Aus­druck“ des Her­rn wird, ja, zum le­ben­digen ­Ab­bild. So wird der Mensch im Glauben an den Men­schensohn befähigt, in sei­nem Leben dem Herrn „leibhaft“ zu entspre­chen und alles Erdhafte in die Bezie­hung zu Christus hineinzuneh­men.
Noch in einer anderen Hinsicht ergibt sich aus der Schöpfungstheologie ein wichtiger Hinweis für die konkrete Glaubenspra­xis. Meist re­­du­zierte sich in den vergangenen Jahrhun­derten die Aus­sage über die Schöpfung darauf, daß diese in Gott ihre Ur­sa­che hat. Das ist aber ein Minimum an objekti­vem Gehalt und sub­jek­tivem Voll­zug. Ferner kam es mit der Neuzeit zu einem grund­legenden Wandel im Weltverständnis. Nun sieht sich der Mensch, als res cogi­tans ge­dacht, der Welt als der res ex­ten­sa ent­­gegenge­stellt; er be­dient sich der Welt, in­dem er sich sei­ne ei­gene Welt schafft. Die­ser Prozeß ist selbst­verständlich nicht rein negativ zu be­urtei­len, doch er führt zu einem ein­dimen­sionalen Umgang mit der Welt, die zunehmend ihre the­o­phane Struktur verliert. Ein Vor­gang von the­ologi­scher Trag­wei­te: Schon Schel­ling24 und Baader25 wie­sen dar­auf­ hin, daß in dem Au­gen­blick, da der Glaube die Welt ver­liert, er auch Gott ver­liert.
Der christliche Gott offenbart sich nicht als eine Weltseele, die in der Schöpfung ihren sicht­baren Ausdruck findet. We­sens­aus­druck des unendlichen Gottes ist allein der gött­liche Logos. Ob­wohl die Welt nur ein kontin­gen­tes und end­liches Sym­bol bleibt, ist die Schöpfung – bei aller Un­ähn­lich­keit – doch in al­lem Selbstausdruck Got­tes. Dies bezeugt die Hei­lige Schrift auf viel­fältige Weise. Nach Psalm 19 bergen Himmel und Erde, Tag und Nacht ein lautloses Wort Got­tes in sich (vgl. Pss 29.50.97). Denn die Schöpfung „ist er­füllt von der Huld des Herrn“ (Ps 33, 5), was „die Wesensqua­li­fikation der Schöpfung“ an­zeigt.26 In der Anklage des Hiob verleiht Gott seiner Schöp­fung das Wort, um ihn eines Besseren zu belehren. Nicht an­ders das neutestamentliche Zeugnis: Jesus macht die Schöp­fung „zur Predigerin Gottes“, schon in den endlichen Gleich­nissen der Schöp­fung zeigt sich die end­gültige Verhei­ßung des Rei­ches.
Die Gleichnisse Jesu, wie sie in den Evangelien überliefert sind, müssen in ihrer eigentlichen Dimension gesehen und gedeutet wer­den. Denn sie sind mehr als eine Erzählform und literari­sche Gat­tung, sie stellen selber so etwas wie eine Theologie dar, näm­lich eine Theologie der Schöpfung: „Nur weil die Schöpfung Gleich­nis ist, kann sie Wort des Gleichnisses werden.“27 So sprechen die Gleichnisse in Bildern, die authentischer Ausdruck der Wirk­lichkeit sind, die nie aufgehört hat, Schöpfung Gottes zu sein.
Aber es ist noch mehr zu sagen. Denn die Gleichnisse sind nicht nur Bilder aus der Schöpfung, sie zeigen auch deren Da­seinsgrund an. Die Schöpfung ist ein großes und unauslotbares Ge­heimnis, weil Gott in sie eintreten und in ihr „Fleisch“ an­nehmen kann. So wird in der Mensch­werdung der Gottessohn selbst zu einem Gleichnis, das sich schließlich aber überbietet in seinem eigentlichen Sinn, nämlich in der Auferstehung: Gott tritt wirklich in die menschliche Realität ein, bis in das Leid und den Tod, doch er überbietet alles mit sich selber im Ge­heimnis von Ostern. Es gilt sogar: Gott kann in seine Schöpfung eintreten und sich im Menschen inkar­nieren, weil das Fleisch immer schon Ausdrucksgestalt des Geistes ist, doch „an­de­rerseits gibt damit die Inkarnation des Sohnes dem Menschen und der sichtbaren Welt erst endgültig ihre eigentliche Be­deutung“28.
Was Christus in seinen Gleichnissen zum Ausdruck bringt, ist al­so mehr als nur eine schöne Erzählung, sie enthalten vielmehr eine Theologie der Schöpfung und des menschlichen Daseins. Im Gleichnis zeigt sich die Tiefendimension aller Schöpfungswirklichkeit, die für den Men­schen zur Aufforderung wird, Gott in allen Dingen zu suchen und die „vestigia Dei“ auszu­buchstabieren: „Das Gleichnis tritt nicht von außen her an die Welterfahrung heran, sondern es gibt ihr erst ihre eigentliche Tiefe, es sagt erst, was in den Dingen selbst steckt. Die Gleichnisse sind somit eine präzise Erfahrung der Wirklichkeit, ihre authentische Erkenntnis.29
Eine solche Theologie der Schöpfung, wie sie in den Gleichnis­sen Jesu enthalten ist, wird für das Verständnis der sakramentalen Vollzüge von grundlegender Be­deutung. Die Sakramente „in­karnieren“ gleichsam das christliche Weltbild, nämlich die Wirklichkeit als Schöpfung. In diesem Verständnis der Feier der Sakramente liegt die christliche Antwort auf die Neuzeit, es be­­darf nämlich einer sakramentalen Wie­dergewinnung der Wahrheitsidee. Der Mensch muß aus der Sekundärwelt des Gemachten zurückkehren auf die Spur der Schöpfung, nur so kann er wieder wahrheitsfähig werden. Noch ehe wir Sinn machen, ist er schon da, so daß all unser Er­ken­nen ein „Nachdenken“ ist.
Zu solchem Nachdenken sieht sich der Mensch aufgefordert in den Gleichnissen der Evange­lien: „Weil der Leib Sichtbarkeit der Person, die Person aber Bild Gottes ist, daher ist der Leib in seinem ganzen Beziehungsbereich zugleich der Raum, in dem sich das Göttliche abbildet, aussagbar und anschaubar wird.“30 Die Heilige Schrift schafft in den Gleichnissen nicht bloß „Bil­der“ von Gott, „sondern sie kann die leiblichen Dinge als Bilder gebrauchen, Gott in Gleich­nissen erzählen, weil dies alles wahrhaft Bilder sind. Die Schrift verfremdet also mit solcher Gleichnisrede nicht die leibliche Welt, sondern benennt darin ihr Eigentliches, den Kern dessen, was sie ist. Indem sie sie als Vorrat an Bildern für die Geschichte Gottes mit dem Menschen deutet, zeigt sie ihr wahres Wesen auf und macht Gott in dem sichtbar, worin er sich wirklich ausdrückt. In diesem Kontext ver­steht die Bibel auch die lnkarnation.“31 Die Aufnahme der menschlichen Welt, der im Leib sich ausdrückenden menschlichen Person in das biblische Wort, ihre Umwandlung in Gleichnis und Bild Gottes durch die biblische Verkündigung, ist gleich­sam schon eine vorweggenommene Inkarnation: Gott drückt sich selbst in der Schöpfung aus und kann in ihr erkannt werden: „Ist doch, was sich von Gott erkennen läßt, offenbar. Gott selbst hat es kund­ge­tan. Denn sein un­sicht­bares Wesen, seine ewige Macht und Gött­lichkeit sind seit der Erschaffung der Welt an seinen Wer­ken zu erkennen“ (Röm 1,19f.). In der Inkar­nation des Logos vollendet sich, was in der biblischen Geschichte von Anfang an schon un­terwegs ist. Das Wort zieht darin schon fortwährend gleichsam das Fleisch an sich, macht es zu seinem Fleisch, zum Lebensraum seiner selbst. Einerseits kann Inkarnation nur geschehen, weil das Fleisch immer schon Ausdrucksgestalt des Geistes und so möglicher Wohnort des Wortes ist; andererseits gibt damit die Inkarnation des Sohnes dem Menschen und der sichtbaren Welt erst endgültig ihre eigentliche Bedeutung.“32
Bona­ven­tura bringt es in ei­ne ge­radezu hymnische Sprache: „Wer vom Glanz der ge­schaffe­nen Dinge nicht er­leuchtet wird, ist bli­nd; wer durch dieses laute Rufen der Natur nicht er­weckt wird, ist taub; wer von diesen Wundern der Natur be­ein­druckt, Gott nicht lobt, ist stumm; wer durch diese Si­gnale der Welt nicht auf den Urhe­ber hin­gewiesen wird, ist dumm. Öffne dar­um deine Augen, wende dein geisti­ges Ohr ih­­nen zu, löse dei­ne Zunge und öff­ne dein Herz, da­mit du in allen Kre­a­turen deinen Gott ent­deckst, hörst, lobst, liebst […], damit nicht der ganze Erd­kreis sich an­klagend gegen dich erhebe!“33 Eine solche the­o­logi­sche Spra­che von der Schöpfung haben wir heute teils ver­loren, aber in den geistlichen Vollzügen des Glau­bens wiederzu­ge­winnen.
Die der Schöpfung ureigene Sprache hat nichts ge­mein mit dem, was sich heute als Un­end­lichkeits­sti­mmung ge­bärdet: Die­se läßt den Menschen lieber in einem na­men­losen All ver­schwin­den, als vor das Antlitz des Menschensohnes treten, des­sen Augen wie Feuer­flammen sind (vgl. Apk 1,14). Ein stark psy­­cholo­gisch verfaßter Pietismus des Lieblichen räumt alle Kom­ple­xitäten bei­seite und hebt alle sprachlichen Un­ebenhei­ten weit weg von der Sprache des Markus oder des Je­saja. Got­tes Wort, scharf wie ein Schwert, scheint sich heu­te zu verlie­ren im wei­chen Ton der Belanglosigkeit und sucht zu leicht sein Maß an Rilkes Stundenbuch oder de Saint-Exu­pé­rys Klei­nem Prin­zen. Der Psy­chologe Albert Görres, den Joseph Ratzinger zi­tiert, spricht von einer neuen „Hin­dui­sierung“ des Chri­­sten­tums, „in der es nicht mehr auf Glau­benssätze an­kommt, son­dern auf das Be­rührtwer­den von einer spirituel­len Atmos­phä­re“. Doch: „Es gibt kein Chri­st­entum ohne ‚Präg­nanz­­ten­denz‘. Es gibt keine Leh­re Jesu ohne Knochen, ohne dogma­tisches Prinzip. Jesus woll­te keine inhaltlose Ergriffenheit bewirken“34. Der sanfte Slang me­ditativ verschwe­ben­der Gläu­big­keit wird Gott keineswegs ge­recht, zumal dessen Sprache kaum die gewal­tige Wahr­heit der ge­schöpf­li­chen Welt auszu­sagen ver­mag.
Ein kusche­liger Seelengott, der mit viel psychologi­scher Stili­sierung ins Wort gefaßt wird, wird nicht dem Auf­wand ge­recht, der sich in den Kosten der Entwicklung an Molekü­len, Sa­men, Ar­ten und Gestalten zeigt. Auch der Mensch im Kos­mos ist mehr als die platte Zärt­lich­keit eines „Gott liebt dich, wie du bist“, heißt es doch: „Von Jahr zu Jahr säst du die Men­schen aus; sie glei­chen dem sprossen­den Gras. Am Morgen grünt es und blüht, am Abend wird es ge­schnitten und welkt“ (Ps 90,5f,). „We­der das Heil, das Gott in Jesus Chri­stus für die Menschen will, noch das Reich, das aus diesem Heilswil­len und seiner tätigen Aufnahme unter uns wächst, dürfen wir – an­thro­po- oder auch geo(gäa?)zentrisch – auf die horizon­tale Na­tur-Di­mension verkür­zen.“35
Wo der Mensch auf die Sprache der Schöpfung nicht achtet und seinen Leib asketisch oder li­ber­tinistisch verhöhnt, verach­tet er sich selbst. Ratzinger bemerkt: „Schöpfungstheologische Askese wie Liber­ti­nismus führen mit zwanghafter Notwendigkeit zum Haß des Menschen auf dieses sein Leben, auf sich selbst, auf die Wirklichkeit des Ganzen.“36

3. Deus caritas est
Die geistlichen Implikationen der eucharistischen Ekklesiologie konkretisieren sich in einem Leben aus der Liebe. Dies zeigt die ­Enzyklika „Deus caritas est“ vom 25. Dezember 2005 37. Sie um­faßt 78 Sei­ten und hat einen ersten philo­so­phisch-theologischen Teil so­wie einen zweiten mit konkre­ten Folgerungen aus dem Gebot der Nächstenliebe. Auch wenn die Liebe viele Dimensi­onen hat, bildet sie „eine einzige Wirklichkeit“, denn zwischen Got­tes- und Nächstenliebe, zwischen schenkender und begehrender Liebe be­steht eine innere Einheit.
Die Enzyklika beginnt mit den Worten: „‚Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm‘ (1 Joh 4,16). In diesen Worten aus dem Ersten Johannesbrief ist die Mitte des christlichen Glaubens, das christliche Got­tesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges in einzigartiger Klarheit ausgesprochen. Au­ßer­dem gibt uns Jo­hannes in demselben Vers auch sozusagen eine Formel der christlichen Existenz: ‚Wir haben die Liebe erkannt, die Gott zu uns hat, und ihr geglaubt‘ (vgl. 4,16). Wir haben der Liebe geglaubt: So kann der Christ den Grundentscheid seines Le­bens ausdrücken. Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluß oder eine große Idee, son­dern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Per­son, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt. In seinem Evangelium hatte Jo­han­nes dieses Ereignis mit den fol­gen­den Worten ausgedrückt: ‚So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hin­­gab, damit jeder, der an ihn glaubt, […] das ewige Leben hat‘ (3,16).“
Die Liebe ist nicht bloß eine Verhaltensweise Gottes, sondern sein tiefstes Geheimnis.38 Gott schenkt nicht nur Liebe, alles in ihm ist Liebe. Die Liebe ist nicht etwas am Menschen, sie ist das tiefste gött­liche Mysterium: Gott liebt nicht nur, er ist die Liebe.
Eine Grundaussage im christlichen Verständnis der Liebe be­steht dar­in, daß die Liebe mehr ist als ein Gefühl, da sie vor al­lem „vernünftig“ sein will. Mit dieser Aussage wird das Hauptthema des theologischen Werkes Joseph Ratzingers ange­sprochen: Glaube und Vernunft be­fruchten und stärken sich ge­gen­sei­tig. So heißt es in der Enzyklika „Deus caritas est“: „Der Glau­be hat gewiß sein eigenes Wesen als Be­geg­nung mit dem lebendigen Gott – eine Begegnung, die uns neue Horizonte weit über den eigenen Bereich der Vernunft hinaus öffnet. Aber er ist zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst. Er befreit sie von der Perspektive Gottes her von ihren Ver­blen­dungen und hilft ihr deshalb, besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Ver­nunft, ihr eigenes Werk besser zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen“ (Art. 28).
Der Ansatz bei der Vernunft läßt das Wesen der christlichen Liebe tiefer erfassen, wie es sich im Le­ben Christi selbst zeigt und auf un­überbietbare Weise offenkundig wird. Christus ist der Maßstab des wah­ren Humanis­mus, in ihm sind Wahrheit und Liebe eins. So führt die Enzyklika aus: „Die Liebe ist nun dadurch, daß Gott uns zuerst geliebt hat (vgl. 1 Joh 4,10), nicht mehr nur ein ‚Gebot‘, sondern Ant­wort auf das Ge­schenk des Geliebtseins, mit dem Gott uns entgegen­geht.“ Unter Artikel 17 lesen wir weiterhin: „Er hat uns zuerst geliebt und liebt uns zu­erst; deswegen können auch wir mit Liebe antworten. Gott schreibt uns nicht ein Gefühl vor, das wir nicht herbeirufen können. Er liebt uns, läßt uns seine Liebe sehen und spüren, und aus diesem ‚Zuerst‘ Gottes kann als Antwort auch in uns die Lie­be aufkei­men.“
Am Beginn des ersten Teils der Enzyklika wird die Problemstellung kurz skizziert: „Das Wort ‚Liebe‘ ist heute zu einem der meist gebrauchten und auch mißbrauchten Wörter geworden, mit dem wir völlig verschiedene Bedeutungen verbinden“ (Art. 2). Doch nicht das Denken und Ma­chen sind die Bausteine dieser Welt, sondern die Liebe. Jesus offenbart auf vollkommene Weise das Geheimnis der Liebe, nämlich in seiner Kenose. Er ist nicht in sich stehend geblieben (Hypostase), sondern entäußerte sich und wurde Mensch.
Eigens werden die beiden Grunddimensionen der Liebe hervorgehoben, nämlich der „Eros als Darstellung der ‚welt­lichen‘ Liebe und Agape als Audruck für die im Glauben gründende und von ihm geformte Liebe. […] In Wirklichkeit lassen sich Eros und Agape – aufsteigende und ab­steigende Liebe – nie­mals voneinander trennen. […] Im letzten ist ‚Liebe‘ eine ein­zige Wirk­lichkeit, aber sie hat verschiedene Dimensionen“ (Art. 7). Das Neue in der biblischen Auffas­sung der Liebe „zeigt sich vor allem in zwei Punkten, die verdienen, hervorgehoben zu werden: im Gottesbild und im Men­schenbild“ (Art. 8). Die Neuheit des biblischen Gottesbildes besteht darin: „Es gibt eine Vereinigung des Menschen mit Gott – der Urtraum des Menschen -, aber diese Vereinigung ist nicht Verschmelzen, Untergehen im namenlosen Ozean des Göttlichen, sondern ist Einheit, die Liebe schafft, in der beide – Gott und der Mensch – sie selbst bleiben und doch ganz eins werden“ (Art. 10).
Auch die Neuheit des biblischen Menschenbildes zeigt sich im Schöpfungsbericht: Der Mensch wird „nur im Mit­einander von Mann und Frau ganz“ (Art. 11), indem sie „ein Fleisch“ mitein­ander werden: „Dem monotheistischen Gottesbild entspricht die mo­no­game Ehe. Die auf einer ausschließlichen und endgültigen Liebe beruhende Ehe wird zur Darstel­lung des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk und umgekehrt: die Art, wie Gott liebt, wird zum Maß­stab menschlicher Liebe. Diese feste Verknüpfung von Eros und Ehe in der Bibel findet kaum Parallelen in der außerbiblischen Literatur“ (Art. 11).
Gewiß, das Sakrament der Ehe deutet Paulus ekklesiologisch­­. Wird die Ehe nur im Zusammen­hang mit jenen gesehen, die da hei­raten, also nicht in ihrem Bezug auf die gan­ze Kirche und da­mit auf die Welt, ist ihr wahrer sakramentaler Charakter nicht begriffen, nämlich jenes große „Geheimnis“, auf das Paulus die Worte anwendet: „Aber ich spreche im Hin­blick auf Chri­stus und die Kirche.“ Doch das wah­re Thema, der In­halt und der eigentliche Gegenstand die­ses Sakra­ments ist nicht die „Fa­mi­lie“ bzw. die Fortpflanzung sondern die Lie­be, wie sie in der Schöpfungsordnung begründet ist.39
Die ­Of­fenba­rung in Chri­­stus geht über die Schöp­fungswirk­lich­­keit nicht hinaus, sie erschließt diese in einem neu­en, d.h. tieferen Sinn für die Befreiung und Erlösung des Men­schen­.40 Beide Realitäten gött­li­chen Handelns gehören zu der einen Heilsordnung Gottes:­­ Schöp­fungsplan und Heils­plan stellen keine zwei eigenstän­digen ­Wirklichkeiten ­dar. Die Sakramentalität ist keine zur Ehe hin­zutretende Wirk­lichkei­t, sie fügt der Ga­be des Schöpfers nichts hinzu, sondern deckt deren tie­feren Heilssinn auf, näm­lich jene geschenkte Möglichkeit ehelicher Be­geg­nung, in der die Eheleute das von Chri­stus verheißene Heil emp­fan­gen und aus ihm leben.41 Das Neue im christ­lichen Eheverständnis liegt in der unaufkündbaren Beziehung der Brautleute zu Christus und seiner Kirche.
Im Neu­en Te­sta­ment wird die Schöp­fungs­ord­nung der Ehe in ihrem vollen Sinn erkennbar. So wird das Bild vom Ehe­bund, mit dem Gott seine Treue zu­m Volk zu­sichert (Jes 54; Jer 3,6ff.; Ez 16; Hos 2), durch das Bild vom Hoch­zeits­mah­l (Mt 9,15; 25,1­ff.; Mk 2,1­9f.; Lk 5,3­4f.; Joh 3,2­9) ergänzt: „Das Ehever­hält­nis wird hier gleich­sam zur Gram­­matik, mit deren Hilfe die Of­fen­barung das Ver­hältnis Got­­tes zu uns buch­stabiert.“42 Was in der Schöp­fungsordnung ange­legt war, wird in der­­ Ehe of­fen­bar. Die göttliche Treue ist demnach kein Abbild der menschlichen Treue, vielmehr erhält die mensch­­liche Treue Anteil an der Treue Gottes.43
Gott begegnet uns in der Liebe zum Mitmenschen. Dies gilt in besonderer Wei­se für die Ehe, sie ist Ort der Gottes- und Chri­stusbegeg­nung. Und daß Gott in der Kirche die vielen zu ei­nem Leib ver­bindet, fin­det seine schöp­fungsge­mäße Erfüllung in der Ehe, wo sich zwei Menschen aus Liebe zu einem Leib ver­­einigen. So wird die Ehe zum ver­gegenwärti­genden Ze­ichen der Treue und Liebe Gottes in Chri­stus und zu sei­ner Kirche (DH 13­27).
Über die Einheit von Schöpfungs- und Heilsordnung i­n der Ehe schreibt Joseph Ratzinger: „Als Schöpfungsordnung ist sie Bundesordnung, und als Bundesordnung vollzieht sie die Schöp­fungs­ord­nung. Richtiger und genauer müßten wir sagen: Die Realität des Bundes ermöglicht erst die wahrhaft der Schöpfung ge­mäße Ordnung des ‚Naturphänomens‘, das als bloßes Natur­phä­­nomen überhaupt nicht bestehen kann, sondern immer nur als geschichtlich Geordnetes und daher gewöhnlich auch ge­schichtlich Überfremdetes. Für denjenigen, der sich im Glauben in die Bundesgeschichte stellt, empfängt es logischerweise seine Ordnung nicht mehr von irgendeiner Geschichte her, sondern eben von der Bundesgeschichte, die allein den Menschen in seine Ur­sprünge zurückrufen und aus seinen Überfremdungen befreien kann. Das aber heißt: Sakrament ist nicht etwas über, neben oder an der Ehe, sondern gerade die Ehe selbst, und als sol­che ist sie für den, der sie im Glauben lebt, das Sakrament. Je mehr es ihm ge­lingt, die Ehe aus dem Glauben zu leben und zu gestalten, de­sto mehr ist sie ‚Sakrament‘.“44
Immer wieder kommt die Enzyklika auf die Liebe zwischen Mann und Frau zu sprechen, „in der Leib und Seele untrennbar zusammenspielen und dem Menschen eine Verheißung des Glücks aufgeht, die unwiderstehlich erscheint, als der Urtypus von Liebe schlechthin, neben dem auf den ersten Blick alle anderen Arten von Liebe verblassen“ (Art. 2).
Das Urmodell menschlicher Liebe findet sich nach Aussage der Enzyklika jedoch nicht in der ehelichen Liebe von Mann und Frau, sondern in der Liebe Gottes selbst, wie sie sich in Christus geoffenbart hat. Die Enzyklika legt dies damit dar, daß sie die wahre Liebe Gottes offenbar geworden sieht in der geöffneten Seite des Gekreuzigten, also an der Stelle, wo Eva aus Adam hervorging. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es im Leitartikel zur der neu erschie­nenen Enzyklika des Papstes resümierend: „Niemals zuvor hat ein Papst so einfühlsam und poetisch, zugleich theologisch von umfassender Bildung über die menschliche Liebe, vom ‚Versinken in der Trunkenheit des Glücks‘, geschrie­ben wie Benedikt.“45
Das Christentum wird in der Enzyklika als keine Sonderwelt neben dem Staat angesprochen, vielmehr weiß sich der Christ in allem als „Salz der Erde“ und darin in die Pflicht genommen für seinen Einsatz in der Welt. Christliches Leben im Glauben ist in der Enzyklika nicht auf Fröm­mig­keit, geist­liche Verpflichtungen und Gebote enggeführt, vielmehr wer­den die sozialen Verpflichtungen des Glaubens her­vor­ge­ho­ben. Hier erweist sich der Ansatz einer Theologie der Lie­be als äußerst fruchtbar: Glaube be­schränkt sich nicht allein auf die Übernahme einer „fides quae“, er hat sich im Einsatz und in der Hingabe zu bewähren.
Darin zeigt sich ein Grundgesetz des christlichen Glaubens und seiner Heilswirklichkeit: Der Mensch wird gerettet, indem er mit­wirkt, andere zu retten. Erlöst, gerettet und geheiligt wird der Mensch für die anderen und insofern auch durch die anderen.
Die „Existenzrichtung Jesu, sein eigentliches Wesen“, sieht Jo­seph Ratzinger in dem Wort „für“. Die Rettung des Menschen besteht darin, daß er wird wie er, aber dann muß er auch „für“ die an­de­ren leben und sich hingeben. Christsein ist das beständige Pascha des Übergangs aus dem Sein für sich in das Sein für­einander.
Glaube ist mehr als die Übernahme eine Lehre und das Einhalten bestimmter Gebote, wie auch die Heilige Schrift noch nicht das eigentlich Neue des christlichen Glaubens ausmacht: Das Neue ist nicht eine Lehre, sondern die Person Jesus Christus. In ihm offenbart sich Gott als die Liebe und so als das Ziel menschlichen Strebens und Su­chens. Die Enzyklika betont die Priorität der Liebe als Mitte des christlichen Glaubens, weil so deutlich wird, daß es im christlichen Glauben um keine Werkfrömmigkeit bzw. Werkgerechtigkeit geht. Es handelt sich vielmehr um die „fides caritate formata“, in der die Werke die „Frucht“ des Glaubens selber sind. Mit diesem Ansatz wehrt sich der Heilige Vater gewiß gegen ein Verständnis des Glau­bens, wie es zuweilen der Befrei­ungstheologie zugesprochen wird.
Ferner geht es­ Papst Benedikt in seiner Enzyklika darum, Askese weniger in ihrer abtö­tenden Funktion als vielmehr als leibhafte und ganzheitliche Einübung in den Glauben darzulegen: Nicht die Askese macht den Christen, sondern die Liebe. In diesem Sinn sind die Evangeli­schen Räte in ihrer theologischen und nicht so sehr rein asketischen Funktion hervorzuheben: Die rest­lose Hingabe mit dem Leib ist ein Ausdruck des neuen, radikalen Gottesverhältnisses: „Der Glau­be ist keine Theorie, die man akzeptieren oder zurückstellen kann. Er ist etwas sehr Kon­kretes: Er ist das Kriterium, das über unseren Lebensstil entscheidet.“46
Der Christ hat seinen konkreten Lie­besdienst zu leisten in der „Solidarität aller Völker“ und kann ihn nicht nur dem Staat überlassen (Art. 30). Aufgabe aller Christen ist es, men­schen­wür­diges Leben für alle möglich zu machen und zu sichern. In diesem Sinn ist das, was die Akti­onen von Misereor und Ad­ve­niat als Hilfe der deutschen Kirche für einige Länder lei­sten, als eine weltweite Organisation zu konzipieren: Die Kirche muß als Ge­meinschaft im Glau­ben die Liebe üben. Diakonie ist keineswegs bloß das Werk von Einzelnen bzw. von Hilfswerken und Insti­tutionen, es bedarf einer gemeinschaftlichen Diakonie. In­so­fern vertre­ten die Hilfsak­tionen Misereor und Adveniat nur die eine Seite der Kirche; ihr Anliegen müßte zu einer Struk­tur­aufgabe der Kirche werden: Kirche ist Diakonie – und hat nicht nur Diakonie auszuüben.

Dies entfaltet Papst Benedikt an anderer Stelle unter Bezug auf 1 Kor 13,1-3: „Ohne die caritas ist alles übrige, Glaube, Werke, nichts, schlechthin nichtig. Und so treffen sich hier Paulus und Jakobus, denn mit dem Verweis auf den Glauben, der in der Lie­be wirkt, grenzt der Apostel den rettenden Glauben, den pneumatisch inspirierten Glauben ab von dem Glauben, der auch den Dämonen eignet, aber nicht retten kann (Jak 2,19). Ohne Liebe, so Augustinus, kann der Glaube zwar ’sein, aber nicht retten‘ – esse, non prodesse, heißt es in dem unnachahmbaren Latein des Bischofs von Hippo.“47 „In der „Orthopraxie“, also in der tätigen Liebe, bestätigt sich der „wahre Glaube“.
Die Donatisten haben, wie Augustinus bemerkt, die gleichen Sa­kra­mente wie die Kirche, aber die Differenz liegt darin, daß  sie die Liebe gebrochen haben und ihre Idee von Vollkommenheit über die Einheit stellten: „Sie haben alles behalten, was die katholische Kirche ausmacht – nur die Liebe haben sie mit der Einheit aufgegeben. Und darum ist alles andere leer.“48
Kirche ist caritas: „Als Geistgeschöpf also ist die Kirche die ‚Ga­be‘ Gottes in dieser Welt, und diese ‚Gabe‘ ist die Liebe. Aber diese dogmatische These hat doch für ihn zugleich einen ganz kon­­kreten Charakter: Christsein kann man nicht in der Sekte, in der Absonderung von den anderen aufbauen. Dann fehlte nämlich genau die Seele des Ganzen, selbst wenn man alle einzelnen Teile hätte. Zum Christsein gehört gerade das Annehmen der gan­zen Gemeinschaft der Glaubenden, die Demut (humilitas) der Liebe (caritas), das ‚einander ertragen‘ – denn sonst fehlt eben der Heilige Geist, der das Vereinigen ist. Die dogmatische Aussage ‚Kirche ist Caritas‘ verbleibt also doch nicht einfach im bloß Dogmatisch-Lehrmäßigen, sondern verweist auf den Einheit stiftenden Dynamismus, der sich im Zueinander-halten der Kirche erweist. Inso­fern ist für Augustinus das Schisma eine pneu­matologische Häresie, die im ganz konkreten Existenzvollzug gesetzt wird: ausziehen aus dem Bleiben, das des Geistes ist, aus der Geduld der Caritas – aufkündigen der Liebe im Aufkündigen des Bleibens und damit Absage an den Hei­ligen Geist, der die Geduld des Bleibens, des Versöhnens ist“49.
Die Konsequenzen dieses Ansatzes, wie ihn Augustinus in „De Trinitate“ entfaltet, sind eindeu­tig: „Wer willentlich nicht bleibt, der geht von der caritas weg. Daher sein Satz: Wieviel einer die Kirche liebt, soviel hat er den Heiligen Geist. Trinitätstheologie wird direkt zum Maß der Ekklesiologie, die Benennung des Geistes als Liebe zum Schlüssel der christlichen Existenz und zugleich Liebe konkret interpretiert: als kirchliche Geduld.“50
Alle katholischen Ortskirchen müssen sich im Dienst füreinander und aneinander das Wort in ihr Stammbuch schreiben lassen: „Alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemein­schaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem soviel, wie er nötig hatte“ (Apg 2, 44f.). In der Enzyk­lika heißt es: „Die in der Gottesliebe ver­an­kerte Näch­stenliebe ist zunächst ein Auftrag an jeden einzelnen Gläubigen, aber sie ist eben­falls ein Auftrag an die ge­samte kirchliche Gemeinschaft, und dies auf all ihren Ebenen: von der Ortsgemeinde über die Teilkirche bis zur Universalkirche als gan­­zer. Auch die Kirche als Gemeinschaft muß Liebe üben. Das wiederum bedingt es, daß Liebe auch der Organisation als Voraussetzung für geordnetes gemeinschaftliches Die­nen be­darf. Das Bewußtsein dieses Auftrags war in der Kirche von An­fang an konstitutiv. […] Innerhalb der Gemeinschaft der Gläu­­­bigen darf es keine Armut derart geben, daß jemandem die für ein men­schenwürdiges Le­ben nötigen Güter versagt blei­ben“ (Art. 20).51
In der Enzyklika werden schließlich auch die Sakramente in ih­rem „sozialen“ Charakter gese­hen, eine Sicht, die bei Luther und Calvin eher vergeblich zu suchen ist und auch in der ka­tho­lischen Sa­kramententheologie kaum betont und herausgearbeitet wurde. Eine Grundaussage östli­cher Sakramentenlehre lautet: „Jedes ‚mystérion‘ ist immer ein Ereig­nis in der Kir­che, durch die Kirche und für die Kirche. Es schließt jegliche Atomi­sierung aus, welche den Akt von dem­jenigen isoliert, der ihn empfängt. Jedes ‚mystérion‘ wirkt sich auf den ganzen Leib der Gläubigen aus.“52 Dies läßt sich am Sakra­ment der Ehe einsehen. Die Brautleute sind nicht nur je ein­zeln von einer neuen Wirklichkeit des Glau­bens ge­prägt, ihre Ehe selbst ist ein neues Sein in Chri­stus. Indem die Brautleute in der Trau­ungs­li­turgie den Segen erhalten und in einen neuen the­ologi­schen Sta­tus in­ner­halb der „ek­klesia“ ge­führt werden, treten ­sie in ei­ne ­­neue Beziehung zur Eu­cha­ristie ein. Mit der­ Würde des ehe­lichen Pri­estertums be­kleidet, nehmen sie künftig in einer neuen Funk­tion an der Eu­chari­stie teil­.53
Der Ansatz bei der Liebe und dem zutiefst „sozialen“ Charakter des Glaubens läßt das Sakra­ment der Eucharistie angemessener ver­stehen. Das Leben im Glauben ist in der Eucharistie grundgelegt, denn: „Aus dem Gegenüber zu Gott wird durch die Ge­meinschaft mit der Hingabe Jesu Gemeinschaft mit seinem Leib und Blut, wird Vereinigung: Die ‚My­stik‘ des Sakraments, die auf dem Abstieg Got­tes zu uns be­ruht, reicht weiter und führt höher, als jede mystische Auf­stiegsbegegnung des Menschen reichen könnte“ (Art. 13). Die Eu­charistie führt durch die tiefste Vereinigung mit Gott auch in die tiefste Gemeinschaft von und mit allen Menschen: „Die ‚Mystik‘ des Sakraments hat sozialen Charakter. Denn in der Kommunion werde ich mit dem Herrn vereint wie alle anderen Kommunikanten: ‚Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib, denn wir alle haben teil an dem einen Brot‘, sagt der hei­lige Paulus (1 Kor 10,17). Die Verei­nigung mit Christus ist zu­gleich eine Vereinigung mit allen anderen, denen er sich schenkt. Ich kann Christus nicht allein für mich haben, ich kann ihm zugehören nur in der Gemeinschaft mit al­len, die die Seinigen geworden sind oder werden sollen. Die Kommunion zieht mich aus mir heraus zu ihm hin und damit zu­gleich in die Einheit mit allen Christen. Wir werden ‚ein Leib‘, eine ineinander verschmolzene Existenz. Gottesliebe und Nächstenliebe sind nun wirklich vereint: Der fleischgewordene Gott zieht uns alle an sich. Von da versteht es sich, daß Agape nun auch ei­ne Bezeichnung der Eucharistie wird: In ihr kommt die Aga­pe Gottes leibhaft zu uns, um in uns und durch uns konkret weiterzuwirken. Nur von dieser christologisch‑sakra­men­talen Grundlage her kann man die Lehre Jesu von der Liebe recht verstehen. Seine Führung von Gesetz und Propheten auf das Dop­pelgebot der Gottes‑ und der Nächstenliebe hin, die Zentrie­rung der ganzen gläubigen Existenz von diesem Auftrag her, ist nicht bloße Moral, die dann selbständig neben dem Glauben an Christus und neben seiner Ver­ge­genwärtigung im Sakra­ment stünde: Glaube, Kult und Ethos greifen ineinander als eine ein­zige Realität, die in der Begeg­nung mit Gottes Agape sich bildet. Die übliche Entgegensetzung von Kult und Ethos fällt hier einfach dahin: Im ‚Kult‘ selber, in der eucharistischen Gemeinschaft ist das Geliebt­werden und Weiterlieben enthalten. Eucharistie, die nicht praktisches Liebeshandeln wird, ist in sich selbst fragmentiert, und umgekehrt wird […] das ‚Gebot‘ der Liebe überhaupt nur möglich, weil es nicht bloß Forderung ist: Liebe kann ‚geboten‘ werden, weil sie zuerst geschenkt wird“ (Art. 14), und zwar geschenkt als heilige Eucharistie.
Die Enzyklika will im zweiten Teil ihrer Ausführungen wie eine sakramentale Begründung der Diakonie verstanden wer­den: „Aus der inneren Begegnung mit Gott heraus, die Willensge­mein­schaft geworden ist und bis ins Gefühl hineinreicht, […] lerne ich, diesen anderen nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus. Sein Freund ist mein Freund. Ich sehe durch das Äußere hindurch sein inneres Warten auf einen Gestus der Liebe – auf Zuwendung, die ich nicht nur über die dafür zu­ständigen Or­ganisationen umleite und vielleicht als politische Notwendigkeit bejahe. Ich sehe mit Christus und kann dem an­deren mehr geben als die äußerlich notwendigen Dinge: den Blick der Liebe, den er braucht. Hier zeigt sich die notwendige Wechselwirkung zwi­schen Gottes‑ und Nächsten­liebe, von der der Erste Johannesbrief so eindringlich spricht. Wenn die Be­rührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann kann ich im anderen immer nur den anderen sehen und kann das gött­liche Bild in ihm nicht erkennen. Wenn ich aber die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse und nur ‚fromm‘ sein möchte, nur meine ‚religiösen Pflichten‘ tun, dann ver­dorrt auch die Gottesbeziehung. Dann ist sie nur noch ‚korrekt‘, aber ohne Liebe. Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt. Die Heiligen – denken wir zum Beispiel an die sel. There­sa von Kalkutta – haben ihre Liebesfähigkeit dem Nächsten gegenüber immer neu aus ihrer Begegnung mit dem eucharistischen Herrn geschöpft, und umgekehrt hat diese Be­gegnung ihren Realismus und ihre Tiefe eben von ihrem Dienst an den Nächsten her gewonnen. Gottes‑ und Nächstenliebe sind un­trenn­bar: Es ist nur ein Gebot. Beides aber lebt von der uns zuvorkommenden Liebe Gottes, der uns zuerst ge­liebt hat. So ist es nicht mehr ‚Gebot‘ von außen her, das uns Unmögliches vorschreibt, son­dern geschenkte Erfahrung der Liebe von in­nen her, die ihrem Wesen nach sich weiter mitteilen muß. Liebe wächst durch Liebe. Sie ist ‚göttlich‘, weil sie von Gott kommt und uns mit Gott eint, uns in die­sem Einungsprozeß zu einem Wir macht, das unsere Trennungen überwindet und uns eins werden läßt, so daß am Ende ‚Gott alles in allem‘ ist (vgl. 1 Kor 15, 28)“ (Art. 18).
Rückblickend läßt sich aus der Betrachtung der geistlichen Implikationen der eucharistischen Theologie Ratzingers zeigen, wie sie das christliche Leben bestimmt. Die Liturgie reicht bis in die Liturgie des Herzens und des alltäglichen Lebens aus dem Heiligen Geist. Mit dem Kom­men des Menschensohnes und seiner Auferstehung steht die Schöpfung unter einem neuen Gesetz, nämlich dem Gesetz der Eucharistie, welches das Gesetz der Liebe ist. Gott selbst ist der Inhalt dieses Gesetzes, denn er ist die Liebe. Wer liebt, ist aus Gott, und der Heilige Geist lebt in ihm, bis der Mensch zu einer „leibhaften Gebärde“ Gottes wird.

4. Schau der Geschichte
Joseph Ratzinger hat sich eingehend mit der eschatologisch-apokalyptischen Deutung der Trini­tätslehre des Joachim von Fiore (gest. 1202) beschäftigt und sie mit dem biblischen und genuin christlichen Verständnis konfrontiert.
Als biblisches Zeugnis nimmt er zunächst den Propheten Jeremia. Dieser wurde wegen seiner pessimistischen Botschaft verurteilt und eingekerkert, denn er konnte den amtlichen Optimis­mus der Militärs, des Adels, der Priester und der offiziellen (Erfolgs-)Propheten (Hananja) nicht teilen, daß nämlich Gott die Stadt und den Tempel schützen wer­de. Jeremia war Realist genug, um zu erkennen, daß ein mi­li­tärischer Erfolg der Juden gegen die Babylonier kaum zu erwarten sei. Schließlich erweist sich Jeremia als der wahre Realist (Jer 28,9), der die Sachlage beurteilt, wie sie wirklich ist, ohne sich mit falscher Theologie in eine Scheinwelt zu flüchten. Gott wird nie besiegt, auch in scheinbaren Niederlagen weiß er weiter und einen neuen Bund zu schließen (Jer 31,31-34). Wah­rer Realismus im Glauben und scheinbarer Pes­si­mismus in der Beurteilung der Situation müssen sich nicht aus­schließen. Gott kann auf krummen Zeilen gera­de schreiben, zumal Erfolg kein Attribut Gottes ist.
Die Geheime Offenbarung enthüllt die Geschichtsvision eines immerwährenden Fortschritts als eine Täuschung, selbst wenn der Mensch immer wieder meint, göttlich handeln zu können. Got­tes Hand erscheint zuweilen als strafend, aber Gott schafft nicht das Leid und will nicht das Elend seiner Kreatur. Er ist kein neidischer Gott. Seine Macht schenkt erst wahre Hoffnung: Die Hand Gottes hindert den Menschen an der letzten Ausführung, die zu Selbstzerstörung führt. Gott läßt die Vernichtung sei­nes Geschöpfes nicht zu. Es offenbart sich so der Sinn aller in der Apokalypse geschilderten Eingriffe Gottes: „Was sich da als göttliche Strafe darstellt, ist nicht eine positivistisch von außen verhängte Geißel, sondern das Sichtbarwerden der inneren Gesetz­lichkeit eines menschlichen Handelns, das sich der Wahrheit entgegenstellt und damit zum Nichts – zum Tod – hintendiert. Die ‚Hand Gottes‘, die sich im inneren Widerstand des Seins ge­gen seine eigene Zerstörung offenbart, hindert den Marsch zum Nichts, sie trägt so das verirrte Schaf zur Weide des Seins, der Liebe zurück. Auch wenn das Herausgenommenwerden aus dem selbstgesuchten Dornengestrüpp und das Zurückgetragenwerden schmerzt, ist es doch der Akt unserer Erlösung, das Geschehen, das uns Hoffnung gibt. Und wer könnte nicht auch heute die Hand Gottes sehen, die den Menschen am äußersten Rand seiner Zerstörungswut und seiner Per­versionen erfaßt und ihn hindert, weiterzugehen?“54
Gericht bedeutet auch, daß Gott sich der Frage nach dem Sinn von Schöpfung, Leben und Leid stellt. Hans Urs von Balthasar drückt das so aus: Gott muß gleichsam sich selbst „verteidigen“: „Er hat das einmal getan, als der Auferstandene seine Wundmale gezeigt hat. […] Gott selber muß seine Theodizee erfinden. Er muß sie bereits erfunden haben, als er die Menschen mit Frei­heit ausstattete (und deshalb mit der Versuchung), nein zu ihm, zu seinem Gebot zu sagen.“55 Der Herr wird im Gericht, angesichts unserer Fragen, seine Wunden zeigen, und wir werden verstehen.
Auch hier wieder das Gegenüber von scheinbarem „Pessimismus“ und radikaler Hoffnung, wie wir es bei Jeremia finden. Die göttlichen Strafgerichte und Leiden, die über die Menschen kommen, dienen nicht ihrer Zerstörung, sondern der Rettung. Der Mensch ist nicht der einzige Akteur der Geschichte, und darum hat der Tod nicht das letzte Wort.
Diese Verheißung zeigt sich auch in den Seligpreisungen der Bergpredigt. Zwar ist die Propor­tion zwischen Gegenwart und Zukunft in den einzelnen Seligpreisungen verschieden, aber sie sind alle von derselben Hoffnung getragen: Das prophetische Paradox wird nun zum Lebens­modell christlicher Existenz, wie es erst Paulus ins Wort bringt: „Wir werden verkannt und sind doch anerkannt; wir sind wie Sterbende und siehe: Wir leben; wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet; uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele reich; wir haben nichts und haben doch alles“ (2 Kor 6,9f.).56
Eine zentrale Erfahrung auf dem Weg zur letzten Vollendung ist die von Schuld und Sünde: „Vergebung ist Teilnahme am Schmerz des Übergangs von der Droge der Sünde zur Wahrheit der Liebe. Sie ist ein Vorausgehen und Mitgehen auf diesem Weg von Tod und Wiedergeburt. Nur ein solches Vorausgehen und Mitgehen kann dem Süchtigen (und Sünde ist immer ‚Droge‘, Lüge des falschen Glücks) schenken, sich durch den dunklen Gang der Schmerzen führen zu lassen. […] Nur die Liebe gibt die Kraft zum Verzeihen, d.h. zum Mitgehen mit dem anderen auf der Straße des verwandelnden Leidens. Nur sie macht es möglich, mit dem anderen und für ihn den Tod der Lüge anzunehmen und zu ertragen.“57
Der Pelagianismus der Frommen besteht darin, daß sie keine Vergebung und eigentlich über­haupt keine Gabe von Gott haben wollen: „Sie wollen selbst in Ordnung sein – nicht Verge­bung, sondern gerechten Lohn. Sie möchten nicht Hoffnung, sondern Sicherheit. Mit einem harten Rigorismus religiöser Übungen, mit Gebeten und Aktionen wollen sie sich ein Recht auf die Seligkeit schaffen. Ihnen fehlt die für jede Liebe wesentliche Demut – die Demut, über unser Verdienen und Leisten hinaus Geschenktes zu empfangen. Die Verleugnung der Hoffnung zu­gunsten der Sicherheit, vor der wir hier stehen, beruht auf der Unfähigkeit, die Spannung auf das Kommende hin zu ertragen und sich der Güte Gottes zu überlassen. So ist solcher Pelagi­anismus eine Apostasie von der Liebe und von der Hoffnung, im tiefsten damit aber auch vom Glauben. Das Herz des Menschen wird dabei hart gegen sich selbst, gegen die anderen und letzt­lich gegen Gott: Der Mensch braucht ja Gottes Gottsein, seine Liebe nicht mehr. Er setzt sich selbst ins Recht, und ein Gott, der da nicht mittut, wird sein Feind. Die Pha­risäer des Neuen Testaments sind die immer gültige Darstellung dieser Deformation von Religion. Der Kern dieses Pelagianismus ist eine Religion ohne Liebe, die so zur traurigen Karikatur von Religion entartet. […] Der Pelagianismus der Frommen ist ein Kind der Furcht, einer gelähmten Hoff­nung, die die Spannung auf das nicht erzwingbare Geschenk der Liebe nicht aushalten kann. So wird aus Hoffnung Angst, und die wieder gebiert das Streben nach Sicherheit, in der keine Ungewißheit bleiben darf. Nun überwindet nicht die Liebe die Furcht, weil der Selbstsüchtige sich ihrer Art der immer ’nur‘ dia­logischen Gewißheit nicht anvertrauen will. Furcht muß bei die­sem Ausgangspunkt gebannt werden, unabhängig von dem anderen durch das, was in meiner eigenen Verfügung steht – durch mein eigenes Machen, mein ‚Werk‘. Solches Streben nach Sicherheit beruht auf der totalen Selbstbehauptung des Ich, das sich dem Wagnis verweigert, aus sich herauszugehen und sich dem anderen anzuvertrauen. Dies ist geradezu die Probe für das Fehlen wahrer Liebe. Demgegenüber ist festzuhalten an einer Weise der Furcht, die mit der Liebe nicht nur vereinbar ist, sondern notwendig aus ihr folgt: der Furcht, den Geliebten zu ver­let­zen, durch eigene Schuld die Grundlagen der Liebe zu zerstören. Liberalismus und Auf­klärung wollen uns eine Welt ohne Furcht einreden; sie versprechen die totale Beseitigung jeder Art von Furcht. Sie möchten jedes Noch nicht, jede Angewiesenheit auf den anderen und deren innere Spannung austreiben, die aber doch wesentlich zu Hoffnung und Liebe gehört.“58
Die Theologie der Geschichte, wie sie Joseph Ratzinger entwirft, hier aber nur skizzenhaft wiedergegeben, erscheint in ihren Grundzügen eine Antwort auf den zeitgenössischen Pragma­tismus der Selbstgefälligkeit und menschlicher Omnipo­tenz­wün­sche zu sein. Nicht der immer­währende Fortschritt ist die Triebkraft und das Ziel der Geschichte, sondern die Hand Gottes, der in und aus Liebe sein Reich in dieser Zeit aufrichtet, trotz und in allem Leid und Unrecht. Dabei sind die „Proportionen“ Gottes anders gesetzt, als es der Mensch selbst erwartet, doch im Glauben darf er wissen, daß Gott alles in seinem Erbarmen heimholen und versöhnen wird. Gegenüber der Unendlichkeit göttlichen Erbarmens erscheint der „Pelagianismus der From­men“, die sich pharisäerhaft den Himmel gleichsam verdienen und erwerben wollen, wie ein Hohn auf die Voraussetzungslosigkeit der Liebe Gottes.

5. Ökumenische Perspektiven
Zahlreich sind Ratzingers Aktivitäten im Gespräch mit der evangelischen Kirche. Schon 1964 wurde er in den „Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen“ beru­fen, seither war er ununterbrochen am ökumenischen Gespräch beteiligt. Zuletzt noch „rettete“ er die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre; als nämlich die Gespräche zwischen dem päpstlichen Einheitsrat unter der Leitung von Kardinal Cassidy und der Genfer Spitze des Lutherischen Weltbundes zu scheitern drohten, traf er sich inoffiziell in Bayern mit lutherischen Freunden und arbeitete die gemeinsame offizelle Feststellung aus, die von beiden Seiten am Reformationstag 1999 unterschrieben werden konnte.
Zwar hat sich Joseph Ratzinger nicht ausführlich mit der ortho­doxen Theologie beschäftigt, wohl aber trifft er sich in seinen theologischen Anliegen auf vielfache Weise mit Grundaussagen östlicher Theologie. Daß es ei­ne derartige Gemeinsamkeit im Grund­anliegen gibt, ist alles andere als selbstverständlich, denn die Wege theologischen und geistlichen Lebens haben sich über die Jahrhunderte in Ost und West immer mehr dif­ferenziert. Yves Congar schreibt: „Wir sind zu verschie­denen Menschen ge­worden. Wir haben den glei­chen Gott, aber wir stehen vor Ihm als ver­schiedene Men­schen, können uns über die Art unseres Verhältnisses zu Ihm nicht einigen.“59 Das Dog­ma, das die Kirchen trennt, ­führte zu unterschiedlichen geist­lichen und theo­lo­gischen Wegen.60
Östliche Theologie ist mehr auf das Ziel christ­lichen Lebens aus­gerichtet, nämlich die Gleich­förmigkeit mit Christus im Heiligen Geist, während im Abendland vor allem der Wegcharakter des Glau­bens bedacht wird. Daraus erklärt sich, daß es östlicher Theologie nicht so sehr um das Konzept der „Nach­folge Christi“ geht. Die Mystik der Nachfolge Chri­sti, die im Abendland zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist der orien­talischen Spi­ritualität fremd; diese läßt sich eher als Leben in Christus definieren. Das Leben in der Ein­heit des Leibes Christi verleiht dem Men­schen alle not­wendigen Voraus­setzungen, um die Gnade des Heiligen Geistes zu erwer­ben, d.h. um am Leben der Heiligsten Dreifaltigkeit selbst teil­zu­nehmen.61 Dieser Ansatz hat in der Begegnung von westlicher und östlicher Theologie eine aktuelle Bedeutung, wie nun anhand der Ausführungen Ratzingers aufzuzeigen ist.
Heinz Gstrein, der stellvertretende Leiter des Züricher Instituts „Glaube in der zweiten Welt“, zitiert ein Schreiben des Kardinals an den Metropoliten Damaskinos Papandreou in Genf vom 20. Februar 2001: „Lieber Bruder und Freund, wir beide leiden darunter, daß wir nicht mitein­ander Eucharistie feiern dürfen, und gerade das eint uns. Daß Du in diesem gemeinsamen Lei­den und der darin verborgenen Freude der Hoffnung auf eine tiefere Einheit mir ganz nahe ge­blieben bist, ist der große Freund­schaftsdienst vieler Jahrzehnte“62. Der „Stachel“ der Tren­nung un­ter Christen ist, daß sie gerade in dem, was Kirche ausmacht, nämlich in der Eucharistie, getrennt sind.
Nach der Begegnung Papst Pauls VI. mit Patriarch Athenagoras schien eine Eucharistie­ge­mein­schaft mit der orthodoxen Kirche nahe ge­rückt zu sein; nicht anders verhielt es sich im Gespräch mit den „reformatorischen Ge­meinschaften“, denn das II. Vatikanum löste einen ökume­nischen Frühling aus, der auf eine bal­dige Kircheneinheit hof­fen ließ. Doch momentan scheint das ökumenische Gespräch eher ins Stocken geraten zu sein. Worte der Enttäuschung und Resig­nation sind nicht zu überhören.
Als Kardinal Ratzinger zum 264. Nachfolger des heiligen Petrus als Bischof von Rom gewählt wurde, war die Reaktion der or­tho­doxen Kirchen äußerst positiv; dies gilt vom Moskauer Pa­tri­archat der Russisch‑Orthodoxen über das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel und die griechisch‑orthodoxe Kirche bis zum koptisch‑or­thodoxen Patriarchat in Ägypten. „Wir sind sehr glücklich über die Wahl von Papst Benedikt XVI.“, meinte der koptisch‑orthodoxe Bischof Barnaba El Suriani, der den koptischen Patriarchen Papst Shenuda III. bei der Amtseinführung des Heiligen Vaters vertrat. Es wurden hohe Erwartungen an den öku­menischen Dialog unter Papst Benedikt XVI. geäußert. Denn der Theologe Joseph Ratzinger hat sich vielen orthodoxen Theologen während seiner Tätigkeit als Professor, Bischof und Präfekt der Glaubenskon­grega­tion immer wieder als ein Freund und Kenner orthodoxer Theologie erwiesen. Man er­innert sich an die beiden Vorträge, die der damalige Professor Joseph Ratzinger 1974 und 1976 in Wien und Graz hielt. Dort griff er die Worte des Patriarchen Athenagoras vom 25. Juli 1967 auf, die dieser bei sei­ner Begegnung mit Papst Paul VI. geäußert hatte: „Und siehe, wir haben in unserer Mitte gegen jede menschliche Erwartung, den ersten von uns der Ehre nach, den ‚Vorsitzenden in der Liebe‘.“ Professor Ratzinger kommentiert im April 1974: „Es ist klar, daß der Patriarch damit nicht den ostkirchlichen Boden ver­läßt und sich nicht zu einem westlichen Jurisdik­tionsprimat be­kennt. Aber er stellt deutlich heraus, was der Osten über die Rei­henfolge der an Rang und Recht gleichen Bischöfe der Kirche zu sagen hat, und es wäre nun doch der Mühe wert zu überlegen, ob dieses archa­ische Bekenntnis […] nicht doch als eine dem Keim der Sache genügende Sicht der Stel­lung Roms in der Kirche gewertet werden könnte.“ Was er hiermit konkret meint, legt Joseph Ratzinger bei seinem Vortrag am 6. Januar 1976 in Graz dar, wenn er die Maxime formuliert: „Rom muß vom Osten nicht mehr an Primatslehre fordern, als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde.“63 An anderer Stelle fügt er hinzu: „Wer auf dem Boden der katholischen Theologie steht, kann gewiß nicht einfach die Primats­lehre als null und nichtig erklären. Aber er kann andererseits un­möglich die Primatsgestalt des 19. und 20. Jahrhunderts für die einzig mögliche und allen Christen notwendige ansehen.“64
Bei seiner Amtseinführung betont Papst Benedikt XVI., daß er in seinem Pontifikat nicht eigene Ideen durchsetzen wolle, sondern seinen Weg gemeinsam mit der ganzen Kirche gehen möchte, und zwar im Hören auf Wort und Willen des Herrn. Es fällt auf, mit wie vielen Gesten und Worten Papst Benedikt XVI. durchscheinen läßt, wie sehr das ökumenische Gespräch sein be­sonderes Anliegen ist. In der „Messe zum Beginn des Petrusdienstes“ nimmt er erstmals in der Neuzeit wieder jenes mit fünf roten Kreuzen bestickte lange Pallium, das während des ersten Jahrtausends von den Päpsten getragen wurde, als Ost und Westkirche noch nicht getrennt wa­ren. In sei­nem Wappen verzichtet er auf die Tiara und ersetzt sie durch eine Mitra. Wie will der neu gewählte Papst seinen eigenen Dienst im Gespräch mit der Ost­kirche verstanden und ausgeübt sehen?
Schon seit den frühen Jahren seiner theologischen Arbeit als Professor beschäftigte sich Joseph Ratzinger mit dem Thema Ökumene und setzte sich in zahlreichen Kommissionen für die Suche nach der Einheit im Glauben ein.65 In seinem Buch „Einführung in das Christentum“ (1968) setzt er den Rahmen jeder öku­meni­schen Arbeit: „Die Kirche ist nicht von ihrer Organisation her zu denken, sondern die Organisation von der Kirche her zu verstehen. Aber zugleich ist deutlich, daß für die sichtbare Kirche die sichtbare Einheit mehr ist als ‚Organisation‘. Die konkrete Einheit des gemeinsamen, im Wort sich bezeugenden Glaubens und des gemeinsamen Tisches Jesu Christi gehört we­sentlich zu dem Zeichen, welches die Kirche aufrichten soll in der Welt. Nur als ‚katholische‘, das heißt in der Vielheit dennoch sichtbar eine, entspricht sie der For­­derung des Bekenntnisses. Sie soll in der zerrissenen Welt Zeichen und Mittel der Einheit sein, Nationen, Rassen und Klassen überschreiten und vereinen.“66 Ökumenische Arbeit darf nicht bei einer isolierten „Basis“ bzw. „Obrigkeit“ ansetzen: Eine ausgehandelte Einheit ist nur „Menschenwerk“67; theologische Kon­senseinigungen bleiben auf der menschlichen bzw. wissen­schaftlichen Ebene.
Nach Joseph Ratzinger ist im ökumenischen Gespräch zunächst und vor allem nach „der Ver­tretbarkeit des Getrenntbleibens“ zu fragen, „denn nicht die Einheit bedarf der Rechtfertigung, sondern die Trennung“68. Dabei unterscheidet er zwischen menschlichen Trennungen und theo­lo­gischen Spaltungen. Es kann eine Verschiedenheit geben, die das Wesen der Kir­che nicht beeinträchtigt; hier gilt es, „das Miteinander in der Vielheit gewachsener geschichtlicher Formen leben zu lernen“. Positiv anzustreben ist eine „Einheit durch Vielfalt, durch Verschiedenheit“69, wobei gerade die Verschiedenheit ei­nen neuen „Reichtum des Hörens und Verstehens“ erschlie­ßen kann. Sobald einer Spaltung das Gift der Feindseligkeit genommen wird und man sich ge­gen­seitig annimmt, führt dieser Weg zur Erfah­rung einer „felix culpa“, „auch bevor sie ganz geheilt wird“70: „Der harte Kern der Trennung ist erst da gegeben, wo ein oder mehrere Partner gewiß sind, daß sie nicht ihre eigenen Ideen verteidigen, sondern zu dem stehen, was sie aus der Offenbarung empfangen haben und daher nicht manipulieren können.“71
Ratzingers Konzept im ökumenischen Gespräch unterscheidet sich grundlegend von vielem, was in der Annäherung der Christen derzeit allgemein üblich ist. Nach seiner Ansicht läßt sich eine Vereinigung der Christen nicht mit Maximalforderungen erreichen, es bedarf vielmehr der Wahrheit und Redlichkeit auf dem Weg zu ihr.72 Über die Wahrheit läßt sich nicht diskutieren73, debattieren und abstimmen, ihr kann man nur dienen und die Ehre geben: „Wahrheit ist keine Mehrheitsfrage. Sie ist oder sie ist nicht. Deswegen sind Konzilien nicht verbindlich, weil eine Mehrheit von qualifizierten Vertretern etwas be­schlossen hat. […] Konzilien beruhen auf dem Prinzip der moralischen Einmütigkeit, und die wiederum erscheint nicht als eine besonders hohe Mehrheit. Nicht der Konsens begründet die Wahrheit, sondern die Wahrheit den Konsens: Die Einmütigkeit so vieler Personen ist immer als etwas menschlich Unmögliches angesehen wor­den. Wenn sie auftritt, zeigt sich darin die Überwältigung durch die Wahrheit selbst. Die Ein­mütigkeit ist nicht Grund der Verbindlichkeit, sondern das Zeichen der erscheinenden Wahr­heit, und aus ihr fließt die Verbindlichkeit.“74 Das ökumenische Gespräch verlangt mehr als kirchen­politische Verhandlungen und einen äußeren Konsens, betont Joseph Ratzinger: „Da aber der Glaube nicht eine bloße Setzung menschlichen Denkens ist, sondern Frucht einer Gabe, kann die Gemeinsamkeit auch letztlich nicht aus einer Operation des Denkens kommen, sondern wiederum nur geschenkt werden.“75
Arbeit in der Ökumene muß sich vom Prinzip des „Unverfügbaren“ leiten lassen. Durch eine Einigung in Basissätzen ergibt sich noch keine Vereinigung der Christen; eine von Menschen ausgehandelte Einheit „könnte logischerweise nur eine Angelegenheit iuris humani sein. Sie würde damit die in Joh 17 gemeinte theologische Einheit überhaupt nicht berühren“76. Das öku­menische Mühen verlangt nicht nur Kompromißfähigkeit und Verhandlungstalent, es setzt „die eigentlich religiöse Ebene“ von Gebet und Buße voraus, denn es ist primär ein geistliches, weil geistgewirktes Vorhaben.
Glaube und Vereinigung im Glauben sind keine Sache des Menschen, der sie hervorrufen und bewerkstelligen könnte 77, vielmehr grün­den sie im Gebet Jesu für seine Kirche und ihre Einheit. Joseph Ratzinger betont, „daß wir die Stunde nicht wissen und auch nicht festlegen können, wann und wie die Einheit zustande kommt“78; sie ist allein Gottes Sache­.79 Bis Gott selbst die Ein­­heit der Christen bewirkt, gilt es, im ökumenischen Gespräch und in der Annäherung der Christen „dem anderen nichts aufdrängen zu wollen, was ihn ‑ noch ‑ im Kern seiner christli­chen Identität bedroht“80: „Katholiken sollten nicht versuchen, Protestanten zur Anerkennung des Papsttums und ihres Verständnisses von apostolischer Sukzession zu drängen. […] Umge­kehrt sollten Protestanten davon ablassen, von ihrem Abendmahlsverständnis her die katho­lische Kirche zur In­terkommunion zu drängen, da nun einmal für uns das doppelte Geheimnis des Leibes Christi ‑ Leib Christi als Kirche und Leib Christi als sakramentale Gabe ‑ ein ein­ziges Sakrament ist, und die Leibhaftigkeit des Sakramentes aus der Leibhaftigkeit der Kirche herauszureißen das Zertreten der Kirche und des Sakraments in einem bedeutet.“81
Vor allen praktischen Bemühungen und schon erreichten Übereinstimmungen im ökumenischen Gespräch ist nach dem zu fragen, was Gott selbst der Kirche in der Annäherung mit den anderen Kirchen sagen und zeigen will. Ja, es gilt, nach dem tieferen Sinn der Trennung und Spaltung zu fragen. Joseph Rat­zinger verweist auf 1 Kor 11,19, indem er diese Stelle im Sinne Augustins auslegt: „Spaltungen müssen sein“. Der biblische Be­griff „dei“ meint in diesem Zusammenhang ein göttliches Handeln bzw. eine eschatologische Notwendigkeit: „Auch wenn Spaltungen zual­ler­erst menschliches Werk und menschliche Schuld sind, so gibt es in ihnen doch auch eine Di­mension, die einem göttlichen Verfügen entspricht. Darum können wir sie auch nur bis zu ei­nem gewissen Punkt hin durch Buße und Bekehrung aufarbeiten; wann es aber so weit ist, daß wir dieses Spalts nicht mehr bedürfen und daß das ‚Muß‘ wegfällt, das entscheidet der richtende und vergebende Gott selbst ganz allein.“82 Um „durch Verschie­den­heit Einheit zu finden“, gilt es, „in den Spaltungen das Frucht­bare anzunehmen, sie zu entgiften und gerade von der Ver­schiedenheit Positives zu empfangen ‑ natürlich in der Hoffnung, daß am Ende die Spaltung über­haupt aufhört, Spaltung zu sein und nur noch ‚Polarität‘ ohne Widerspruch ist“83. So gibt es für die deutsche Kirche­, wie Jo­seph Rat­zinger bemerkt, durchaus ein Positives im Protestan­tismus „mit seiner Liberalität und seiner Frömmigkeit“, nicht zuletzt „mit seinem hohen geisti­gen Anspruch“84.
Welche Konzepte für den Weg zur Einigung mit der Ostkirche lassen sich bei Joseph Ratzinger herausarbeiten? Seiner Meinung nach beruht die Trennung von 1054 vor allem auf der Ver­schiedenheit der Entwicklungen in Ost und West. Im Westen wird die Kirche immer stärker juristisch konzipiert; das Dogma von 1870 stellt gleichsam den Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Während die Ostkirche als ein Gefüge bischöflich geleiteter Orts­kirchen erscheint, geht – wenigstens auf den ersten Blick – genau dies dem Westen verloren, was der Osten als eine Auf­gabe des Grundgefüges der Kirche überhaupt deutet.85 Dennoch, wie die Kirche des Ostens bleibt auch die des Westens dem Gehalt und der Gestalt der Väterkirche ungebrochen treu; in Rom besteht keine andere Kirche gegenüber jener im ersten Jahrtausend, also jener Zeit, in der man gemeinsam Eucharistie feierte und eine Kirche war.86 Der Osten darf die Entwicklung der Westkirche im zweiten Jahrtausend nicht als häretisch erklären, wie umgekehrt der Westen die Kirche des Ostens in der Gestalt anerkennen muß, „die sie sich bewahrt hat“87.
Noch ein Punkt sei angeführt, der für das weitere Gespräch mit der Orthodoxie entscheidend werden kann. Bischof Hilarion Alfejew von der russisch-orthodoxen Diözese Wien führt hierzu aus: „Soweit ich weiß, haben die Orthodoxen noch nicht adäquat auf die Einladung von Papst Johannes Paul II. reagiert, ein für sie annehmbares Modell des universalen Primats zu erarbei­ten“; statt die katholische Sicht des Primats nur zu kritisieren, muß die Orthodoxie eine eigene Auffassung in der Frage des Primats entwickeln, die für die katholische Kirche über­zeugend ist.88 Von römischer Seite muß deutlich gemacht werden, daß es beim Papsttum nicht bloß um eine Rechtsstellung geht, die über die sakramentale Ordnung gesetzt wurde; vielmehr muß für die Orthodoxie sichtbar gemacht werden, daß im wirklichen Leben der Kirche und im gültigen Kern ihrer Verfassung das sakramentale Gefüge immer lebendig und in seiner Einheit mit dem Petrusamt das Tragende war.89 Hier hat das Gespräch mit der Ostkirche anzusetzen: Über die theologischen Argumente und Klärungen hinaus bedarf es der grundlegenderen Hal­tung des Ge­­bets und des gegenseitigen Verstehens und Annehmens. In diesem Sinn muß auch die Feststellung Joseph Ratzinger verstanden werden: „Eine Kir­cheneinheit zwischen Ost und West ist theologisch grundsätzlich möglich, aber spirituell noch nicht genügend vorbereitet und daher praktisch noch nicht reif.“90
Spirituell reif ist die Zeit für eine Vereinigung der Christen erst, wenn sie aus einer Einheit in der Liebe kommt. Gewiß, es wird Verhandlungen, Gespräche und Kommissionen geben müs­sen, aber die Christen werden nicht auf rein administrativem Weg zueinander finden, sondern nur aus der Feststellung, daß sie – trotz und in aller Vielfalt und Unterschiedenheit – im Glauben an Christus doch immer schon innerlich eins sind bzw. geblieben sind und es in der Feier des Glaubens und der Sakramente und in der Einheit des Gebets und der Ausübung der Liebe immer mehr werden können

Aus: MICHAEL SCHNEIDER, EINFÜHRUNG IN DIE THEOLOGIE JOSEPH RATZINGERS, Edition Cardo,
Bd. 148, Köln 2008, 288 Seiten, ISBN 3-936835-49-7

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© Michael Schneider