28 Für eine Einführung in seine Theologie bis dahin siehe Aidan Nichols OP, The Theology of Joseph Ratzinger (wie Anm. 15; Neudruck 2005 als: The Thought of Benedict XVI), dem ich zu Dank verpflichtet bin, sowie Laurence Paul Hemming, Benedict XVI: Fellow Worker for the Truth. An Introduction to his Life and Thought, London 2005.
29 Ratzinger selbst hat betont, daß sein Ausgangspunkt zunächst einmal das Wort ist: „Daß wir das Wort Gottes glauben, daß wir versuchen, es wirklich kennen-
zulernen und zu verstehen und dann eben mitdenken mit den großen Meistern des Glaubens. Von daher hat meine Theologie eine etwas biblische Prägung und eine Prägung von den Vätern, besonders von Augustinus“ (Salz der Erde, S. 70).
30 Vgl. Vom Sinn des Christseins, S. 21 f.
31 Es ist schwer, einen Überblick über Ratzingers Veröffentlichungen zu geben in Anbetracht der breiten Themenvielfalt, der fragmentarischen Art der meisten seiner Schriften und wegen des bloßen Umfangs der Veröffentlichungen: 86 Bücher, 471 Aufsätze und Vorworte sowie 34 Beiträge zu verschiedenen Nachschlagewerken (laut der vollständigsten Bibliographie, Stand am 1.2.2002: siehe Anm. 5), in neuerer Zeit im Durchschnitt etwa 30 neue Titel im Jahr. Das Folgende muß sich daher auf einige seiner repräsentativsten wissenschaftlichen Werke beschränken.
32 „Ich habe nie versucht, ein eigenes System, eine Sondertheologie zu schaffen. Spezifisch ist, wenn man es so nennen will, daß ich einfach mit dem Glauben der Kirche mitdenken will, und das heißt vor allem mitdenken mit den großen Denkern des Glaubens. Das ist keine isolierte, aus mir selbst herausgezogene Theologie, sondern eine, die möglichst breit sich öffnet in den gemeinsamen Denkweg des Glaubens hinein“ (Salz der Erde, S. 70).
33 Siehe A Question of Fairness, in: Homiletic & Pastoral Review 102/1 (2001), S. 53 f., als Epilog am Ende des Buches abgedruckt.
34 Joseph Ratzinger, Die sakramentale Begründung christlicher Existenz, Meitingen-Freising, 3. Aufl. 1970, der Text einer vierstündigen Vorlesung, die er 1965 auf den Salzburger Hochschulwochen gehalten hatte. Er beschäftigt sich vor allem mit der Suche nach einer neuen Annäherung an die Wirklichkeit der Sakramente und ihrer zentralen Bedeutung in einer Welt, die den Zugang zur sakramentalen Dimension des christlichen Lebens verloren hat. Die zweite Schrift war die Vorlesung, die er am 23. Januar 1978 an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt gehalten hatte: Zum Begriff des Sakramentes (Eichstätter Hochschulreden 15), München 1979.
35 Eine Anzahl Seminaristen kam mich später besuchen, um mir zu sagen, daß sie, obwohl sie als Kinder durch die Initiationsriten gegangen waren, diese jetzt erst nach dem Hören meiner Vorlesungen verstanden hätten.
36 Siehe Anm. 24 seinen Kommentar zu den zwei verschiedenen Interpretations-
weisen des Konzils.
37 Zu Ratzingers Einschätzung der Bedeutung seiner Studie über Bonaventura siehe: Salz der Erde, S. 65 ff.
38 Siehe besonders Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, München 1959, Kap. IV. Ich habe oft bemerkt, daß Ratzingers Theologie des Politischen einige der zentralen Themen Voegelins aufgreift, vermutete aber trotz des gelegentlichen Hinweises in Ratzingers Veröffentlichungen (z. B. Die Einheit der Nationen. Eine Vision der Kirchenväter, Salzburg-München 1971, Wiederaufl. 2005, S. 25; Der Gott Jesu Christi. Betrachtungen über den Dreieinigen Gott, München 1976, Neuaufl. 2006, S. 66) nie einen direkten Einfluß. Vor kurzem gab mir ein Kollege hier in Maynooth, Thomas Norris, die Kopie eines Briefes aus seiner Zeit als Erzbischof an Eric Voegelin, in dem Ratzinger diesem für ein Buch mit persönlicher Widmung dankt, das er mit einer Einladung zur Feier seines 80. Geburtstages erhalten hatte: „Es war für mich eine ebenso große Überraschung wie Freude, von Ihnen mit persönlicher Widmung Ihre philosophische Meditation zugesandt zu erhalten, in der Sie den so nötigen und so sehr zerbrochenen Sinn für das Unvollkommene gegenüber der Magie des Utopischen erwecken wollen. Seitdem ich 1959 Ihr kleines Buch ‚Wissenschaft Politik Gnosis‘ in die Hand bekommen hatte, hat mich Ihr Denken fasziniert und befruchtet, auch wenn ich ihm leider nicht in der Gründlichkeit nachgehen konnte, die ich mir gewünscht hätte.“
39 „Die historisch-kritische Methode ist ein vorzügliches Instrument, um historische Quellen zu lesen und Texte zu interpretieren“ (Wahrheit – Glaube – Toleranz, S. 108). Grundsätzlich kritisiert er, daß dem historisch-kritischen Studium der Schrift vielfach philosophische Annahmen positivistischer Art zugrunde liegen, die dem Inhalt der Schrift selbst schädlich sind. Da diese im allgemeinen nicht zu Selbstkritik neigen, können sie Exegeten zu inakzeptablen Folgerungen verleiten. Zwar mögen diese Ergebnisse als „objektiv“ oder „wissenschaftlich“ vorgestellt werden, doch im allgemeinen spiegeln sie eher die unhinterfragten Annahmen des Exegeten wider (vgl. ebd., S. 133 ff.). Siehe auch seine Bemerkungen in: Aus meinem Leben, S. 106.
40 Siehe: Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute, in: Joseph Ratzinger (Hrsg.), Schriftauslegung im Widerstreit, Freiburg u. a. 1989, S. 7–44.
41 Siehe z. B. Politik und Erlösung. Zum Verhältnis von Glaube, Rationalität und Irrationalem in der sogenannten Theologie der Befreiung, seine Ansprache vor der angesehenen Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften (Vorträge G279, Opladen 1986). Die detaillierte Analyse eines der grundlegenden Texte der Befreiungstheologie, Gustavo Gutíerrez’ Theologie der Befreiung (1971), gehörte vermutlich zu seinen Vorbereitungsarbeiten zu den zwei Instruktionen der Glaubenskongregation zur Befreiungstheologie (1984 und 1986). Gleicherweise gehörten seine Veröffentlichungen zur Beziehung von Christentum und Judentum wie zum Beispiel Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund (Bad Tölz 1998) zu seinen vorbereitenden Studien zum eindrucksvollen Dokument Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (2001) der Päpstlichen Bibelkommission unter seinem Vorsitz. Siehe auch seine Ansprache beim historischen Treffen von Rabbinen und Kirchenführern 1994 in Jerusalem in: Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, S. 44 f. (zum Anlaß dieser Äußerungen S. 129 f.). Zu seinen Vorbereitungsarbeiten zu Dominus Iesus s. u.
42 Der Mensch zwischen Reproduktion und Schöpfung. Theologische Fragen zum Ursprung des menschlichen Lebens, in: IkaZ Communio 18 (1989), S. 61–70, ein außergewöhnlicher Aufsatz über die aktuellen Entwicklungen in der Biotechnologie, der die philosophischen und theologischen Hintergründe in der europäischen Kulturgeschichte (bis hin zur Kabbala) umreißt, die an der Wurzel dieser revolutionären Entwicklungen stehen. Der Aufsatz war ursprünglich ein Vortrag an der Universität Bologna am 30. April 1988 und scheint Teil seiner Überlegungen oder Vorarbeiten zu Donum vitae gewesen zu sein, der Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung vom 10. März 1987.
43 Das italienische Original erschien 1997, die deutsche Ausgabe 1998.
D. Vincent Twomey SVD , in: „Benedikt XVI. Das Gewissen unserer Zeit. |
Das Charakteristische schlechthin an allen Werken Joseph Ratzingers ist seine Originalität, seine Kreativität und seine Unabhängigkeit als Denker. Seine neueren Streifzüge durch die Moraltheologie und die Politikwissenschaft sind, obgleich sie ihre Wurzeln in seiner frühen Erforschung der Dogmengeschichte haben, die eines originalen Denkers, dem bewußt ist, daß sein Beitrag zum zeitgenössischen Diskurs gerade der eines Theologen ist. Im folgenden möchte ich einen Überblick über seine wichtigeren Werke verschaffen, beginnend mit seinen frühen Veröffentlichungen. (31) Doch zunächst möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf einige Hauptmerkmale seiner Werke lenken so wie die Grundlagenforschung erörtern, die seine Doktorarbeit und seine Habilitationsschrift vornehmen, auf denen das Gesamtgebäude seiner Werke gründet. |
2. Einige Hauptmerkmale Glaube – Wahrheit – Toleranz ist Kardinal Ratzingers 200 Seiten lange Antwort auf die weltweite Entrüstung über die Veröffentlichung von Dominus Iesus (6. August 2000), des von der Kongregation für die Glaubenslehre, dessen Präfekt er damals war, herausgegebenen Dokuments (das Buch erschien 2003). Das Dokument bekräftigte den Absolutheitsanspruch der Christenheit und der katholischen Kirche gegenüber den anderen Religionen. In seinem Vorwort schrieb er: „Als ich meine Vorträge aus dem letzten Jahrzehnt zu diesem Themenkreis [Christentum und Weltreligionen] sichtete, zeigte sich, daß von verschiedenen Ausgangspunkten her sich doch so etwas wie ein Ganzes geformt hatte – sehr fragmentarisch und unvollkommen gewiß, aber als Wortmeldung zu einer großen, uns alle tief betreffenden Sache vielleicht doch nicht ganz unnütz.“ Diese Empfindungen beleuchten nicht nur die bestimmenden Merkmale des Menschen – seine Demut und seinen Mut –, sondern auch das Wesen seiner meisten Werke. Sie sind fragmentarisch und zumeist unvollkommen, nichtsdestoweniger aber formen sie so etwas wie ein Ganzes. Er ist sich der fragmentarischen Art all dessen bewußt, was er geschrieben hat, aber er macht eine Tugend aus dieser „Schwäche“, die von der einfachen Tatsache herrührt, daß er dazu berufen wurde, das Leben eines Gelehrten aufzuopfern, das er vorgezogen hätte, um der Kirche zu dienen: zuerst als Erzbischof von München und dann als Präfekt der Glaubenskongregation und jetzt natürlich als Papst. Wie er es selbst in einer seiner letzten Veröffentlichungen ausdrückt, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen (2005): „… vielleicht kann gerade der unfertige Charakter dieser Versuche dazu helfen, das Denken voranzubringen.“ Wie seine Universitätsvorlesungen sind alle seine Werke Beiträge zu einer laufenden Debatte: zuerst der wissenschaftlichen Debatte seiner eigenen Disziplin – der Theologie – und später dann, als der Wissenschaftler mehr zum Hirten geworden war, der öffentlichen Debatte um die Zukunft der Gesellschaft und, vor allem, der Rolle der Kirche darin. Gleichwohl haben seine Werke trotz ihrer fragmentarischen Art etwas von einer inneren Beständigkeit, sie formen tatsächlich „so etwas wie ein Ganzes“, wie er selbst betont. Das liegt daran, daß er nicht nur ein herausragender Wissenschaftler ist, sondern auch ein originaler Denker. Das Resultat ist eine innere Beständigkeit, die alle seine Schriften durchzieht, obwohl jedes einzelne Stück für sich steht und seine Leser stets mit seiner Frische, seiner Originalität und seiner Tiefe überrascht. Er ist als der perfekte Zuhörer beschrieben worden, und das ist er wirklich: aufmerksam auf die Stimmen der anderen hörend, seien sie laut oder leise, seien sie die großen Denker der Vergangenheit oder seine ernsthaften Kritiker von heute. Er hört jedem zu, der irgend etwas zu sagen hat, einschließlich seinen Studenten. Aber vor allem hat er sein „Ohr“ den Beiträgen der großen Denker seit ältester Zeit bis zum heutigen Tag geliehen. Seine Fähigkeit, mit Urteilsvermögen zuzuhören, macht ihn mit seiner phänomenalen Belesenheit zu einem hervorragenden Gesprächspartner. So ein Gespräch fand am 19. Januar 2004 in der Katholischen Akademie in München mit Jürgen Habermas statt. Joseph Ratzinger sprach über die „Vorpolitischen moralischen Grundlagen eines freiheitlichen Staates“ (Werte in Zeiten des Umbruchs, S. 28–40). Die Debatte endete mit der wechselseitigen Anerkennung, daß ein „doppelter Lernprozeß“ nötig wäre, aus dem Vernunft und Religion erkennen würden, aufeinander angewiesen zu sein (vgl. Le Monde vom 27. April 2005). Habermas, so heißt es, sei von der Qualität der Debatte ganz überwältigt gewesen. Selbst zu seiner Zeit als Professor für Dogmatische Theologie mit einem großen Doktorandenkolloquium war der Vorwurf zu hören, er habe nicht vermocht, eine „theologische Schule“ zu bilden, die zum Beispiel mit denen der anderen zwei großen deutschsprachigen Theologen Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar zu vergleichen wäre. Die behandelten Gegenstände der Dissertationen oder Habilitationsschriften, die er betreute, deckten in der Tat das ganze Spektrum der Dogmengeschichte und systematischen Theologie ab. Die Bandbreite der Themen spiegelt das weite Spektrum der Themen wider, die er selbst in seinem weiten OEuvre abdeckt. Obwohl er in der systematischen Theologie zu Hause ist, legte er es nicht darauf an, ein System oder eine „Denkschule“ zu schaffen. (32) In diesem Sinne ist er postmodern, aber eigentlich liegt er mehr auf der Wellenlänge der ursprünglichen christlichen Denker, der Kirchenväter. Seine Theologie ist auf eine Art und Weise seminal, die ich im folgenden kurz darstellen möchte. |
3. Liberal oder konservativ? In einem Interview, das ich nach der Wahl Benedikts zum Papst gab, bat mich Rodrigo Caviero vom Correiro Braziliense doch zu erklären, was es mit der allgemein angenommenen Wandlung des liberalen Theologen vor dem Konzil zum konservativen Ratzinger der jüngeren Zeit auf sich habe. Das ist eine Frage, die sich viele stellen und die ich in einem anderen Kontext eingehend behandelt habe. (33) Persönlich habe ich wenig Muße, große Denker in Schubladen einzuordnen, die oftmals schlicht ungeprüfte Vorurteile reflektieren. Als Professor zuerst und dann als Kardinal hat Joseph Ratzinger, wie wir sehen werden, im Lauf seines Lebens als Theologe ein reiches, reifes Schriftenwerk entwickelt. Seine Werke sind unglaublich dicht und rufen nach Entfaltung und Entwicklung. Sie sind eigentlich „seminal“, Samen der Originalität und Kreativität, die künftige Generationen zum Abschluß bringen werden. Ich (und auch meine Studenten, Laien wie Kleriker und Männer wie Frauen) finde seine Einblicke in den christlichen Glauben und das moderne Leben persönlich bereichernd und intellektuell anregend. Sie sind ausnahmslos frisch und original. Er ist ein aufregender Theologe, ein originaler Denker, der seiner Entdeckung noch harrt. Um das zu verdeutlichen, möchte ich mich auf die Erfahrung beziehen, die ich als Dozent im Regionalseminar von Papua-Neuguinea und den Salomon-Inseln machte. Eines der Themenfelder, das ich abzudecken hatte, war die Theologie der christlichen Sakramente. Ich folgte der Methodik meines Doktorvaters und suchte daher nach einem Ausgangspunkt in der lokalen Kultur, die (vereinfachend gesagt) ursprünglich ist, was sie zu „ewigen Jagdgründen“ für Anthropologen aller Art macht. Diese Kultur befindet sich übrigens wegen der Flickschustereien der „Inkulturation“ der Liturgie in theologischer Verwirrung. Ein Mitbruder, der Anthropologe ist, P. Jim Knight SVD, führte mich in die Welt der primitiven Riten – besonders in die bahnbrechenden Studien von Victor Turner und Mary Douglas – sowie in die Welt der vergleichenden Religionswissenschaften (besonders Mircea Eliade) ein. Bei meiner Suche nach einem theologischen Bezugssystem für die Auswertung meiner Studien war es Ratzinger, der den hermeneutischen Schlüssel lieferte. Ich hatte zwei dünne Bändchen nach Papua-Neuguinea mitgebracht, die er zum Begriff des Sakraments veröffentlicht hatte. (34) Sie lieferten mir nicht nur den theologischen Bezugsrahmen, um die primitiven Initiationsriten (35) auszuwerten und sie innerhalb der Menschheitsgeschichte einzuordnen, die in Jesus Christus gipfelt. Seine Einsichten verhalfen mir auch dazu, die bleibende Bedeutung dieser Riten wertzuschätzen und sie mit den Riten des Alten und des Neuen Testaments in Verbindung zu bringen, welche in den Sakramenten gipfeln, wie wir sie heute kennen. Die Ideen, die er in den zwei Bändchen entwickelt hatte, waren „seminal“. Nachdem sie sozusagen in den Humus der Anthropologie und vergleichenden Religionswissenschaften eingepflanzt worden waren, (36) brachten sie eine reiche Ernte an Vorlesungen ein, die ich nach meiner Rückkehr nach Europa vor einem dankbaren Publikum an der Universität Fribourg (Schweiz) hielt, wo ich im Sommersemester 1984 als Gastprofessor tätig war. Von meiner eigenen Bekanntschaft mit Professor Joseph Ratzinger her kann ich seinen wahrgenommenen Wechsel vom jungen „Liberalen“ zum alten „Konservativen“ nur der Tatsache zuordnen, daß er nicht nur ein anerkannter Wissenschaftler von internationalem Ruf ist, sondern auch, wenn ich mich wiederholen darf, ein originaler Denker. Daß er, verglichen mit der etablierten Theologie der damaligen Zeit, vor dem Konzil „liberal“ und „progressiv“, um nicht zu sagen „revolutionär“ war, ist nicht zu leugnen. Er sagte selbst, sein „Grundimpuls, gerade im Konzil“, sei immer der gewesen, „unter den Verkrustungen den eigentlichen Glaubenskern freizulegen und diesem Kern Kraft und Dynamik zu geben. Dieser Impuls ist die Konstante meines Lebens“ (Salz der Erde, S. 84). In diesem Sinne ist er ein kritischer Denker. Wie jeder tiefe Denker, der sich mit den großen Denkern der meisten vergangenen und gegenwärtigen kulturellen Traditionen beschäftigt hat (und seine Belesenheit ist erstaunlich), ist er nicht nur ein scharfsinniger Beobachter der Gesellschaft und Kultur, sondern hat stets eine kritische Distanz dazu beibehalten. Diese innere Distanz – sie entspringt seiner Leidenschaft für die Wahrheit, seiner lebenslangen Suche nach der Wahrheit und seiner Fähigkeit zu Selbstkritik – befähigt ihn, gegenwärtige intellektuelle Denkströmungen wertzuschätzen und mit ihnen in Dialog zu treten. Das schließt auch das theologische Denken ein, das mit dem Tiefsten allen menschlichen Fragens in Berührung kommt. Während viele Theologen, so könnte man sagen, im starrköpfigen Liberalismus der späten 1960er Jahre steckengeblieben sind, ging Ratzinger weiter – und so wirkte er bald als ein „Konservativer“ oder „Traditionalist“, was beides aber überhaupt nicht dem Menschen oder seinen Werken gerecht wird. Er wandte seinen kritischen Geist bald dem neuen „Establishment“ zu, das in den meisten Fakultäten noch immer an der Macht ist, obwohl dessen Tage mehr oder weniger gezählt sind. Sein unabhängiges Denken brachte ihn mit denen in Konflikt, die im damals so genannten „Geist des Konzils“ verfangen waren, der sich in unreflektierte Anpassung an vorherrschende Moden verwandelte. Seine Unabhängigkeit als Denker zu wahren forderte einen starken Charakter und Mut (und Witz) – mit Hilfe einer inneren Distanz seinem wachsenden negativen Image gegenüber. Dieses neue Image schien ihn kaum zu stören, so überzeugt ist er von der langfristigen Macht der Wahrheit, die ebenfalls zu seiner auffallenden Bescheidenheit beiträgt. Joseph Ratzinger nahm sich nicht allzu wichtig. Immer bewahrte er seinen Humor. Diese Geisteshaltung ist von einem Bewußtsein dafür begünstigt, daß die Wahrheit nicht geschaffen, sondern entdeckt wird, und daher ungeachtet der Person des Theologen für sich selber steht. Das half ihm auch dabei, mit denen in ununterbrochenem Gespräch zu bleiben, die nicht seiner Meinung waren. Er versuchte, ihren Standpunkt zu verstehen, ließ sich auf Selbstkritik ein (womit er für Verbesserungen offen war) und suchte nach neuen Wegen, sie anzusprechen. Er strebt nach Dialog und Verständnis. Er befaßt sich mit der Wahrheit, die uns (als einzelne und als Gesellschaft) allein befreien kann. Diese Freiheit ist die der Liebe, die Hoffnung und Freude erzeugt. |
4. Grundlagenforschung Von Anbeginn seiner eigenen Studien suchten er und viele seiner Zeitgenossen in München nach einer Alternative zu dem bis dahin dominierenden System katholischer Theologie: der Neuscholastik. Die Neuscholastik war im 19. und im frühen 20. Jahrhundert ein Versuch, das philosophische und theologische „System“ des hl. Thomas von Aquin wiederzuerschaffen. Im nachhinein kann man sagen, daß sie von genau dem Rationalismus verdorben war, den sie zu überwinden trachtete. Statt dessen wandte sich Joseph Ratzinger den großen Denkern der frühen Kirche zu. Für seine Doktorarbeit studierte er den Vater der abendländischen Theologie – und der westlichen Zivilisation –: den hl. Augustinus von Hippo in Nordafrika. Wenngleich er die Größe der Scholastik und ihre innere Spannung anerkennt, war Ratzinger dieses Denksystem zu unpersönlich. „Bei Augustinus hingegen ist immer der leidenschaftliche, leidende, fragende Mensch direkt da, mit dem man sich identifizieren kann“ (Salz der Erde, S. 64). Sein Thema war Augustinus’ Verständnis der Kirche – und darin eingeschlossen folglich sein Verständnis des Staates und der politischen Bedeutung des Christentums. Seine Dissertation Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche (1954) ist ein Klassiker. Und sie ist auch die Wurzel von vielem in seiner späteren Theologie. Sie regte seine Beiträge zu den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils an und versah ihn mit den Inspirationen, die er später brauchte, um verschiedene Mißverständnisse des Konzils zu bekämpfen, nicht zuletzt den Versuch, die Kirche als Volk Gottes in mehr oder weniger empirischen oder soziologischen, um nicht zu sagen: politischen Begriffen zu beschreiben. Seine Habilitationsschrift war einem Zeitgenossen des hl. Thomas von Aquin gewidmet: dem hl. Bonaventura, der ebenfalls stark in der augustinischen Tradition verankert war. Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura (1959) (37) analysiert den Versuch des großen franziskanischen Theologen, mit dem neuen Geschichtsverständnis fertigzuwerden, das der Abt Joachim von Fiore ersonnen hatte. Dessen im wesentlichen gnostische Spekulationen wurden von einigen Anhängern des hl. Franziskus, den „Spiritualen“, aufgegriffen, wodurch die frühen Franziskaner gespalten wurden und weswegen Bonaventura, der Generalmagister des jungen Ordens, gezwungen war, mit Joachims Theorien fertigzuwerden. Wie Eric Voegelin gezeigt hat, (38) stehen die Spekulationen Joachims von Fiore zum großen Teil am Ursprung der Moderne. Sie ersetzten wirkungsvoll den Augustinischen Geschichtsbegriff, der bis dahin die westliche Christenheit geprägt hatte, nämlich das Verständnis vom Aufstieg und Fall der Imperien als etwas Transitorisches. Reiche vergehen, nur die ewige Civitas Dei (die „Bürgerschaft Gottes“, wie Ratzinger übersetzt) währt ewig. Und deren sakramentaler Ausdruck ist die Kirche: die Menschheit im Erlösungsprozeß. Joachim dagegen stellte eine aufregend neue Auffassung der Weltgeschichte vor, nämlich als göttlichen Fortschritt in drei verschiedenen Zeitaltern, wobei das letzte das Zeitalter des Heiligen Geistes ist, in dem alle Strukturen (Kirche und Staat) der vollkommenen Gesellschaft autonomer, innerlich allein vom Geist bewegter Menschen Platz machen. Dieses Geschichtsverständnis gründet auf dem, was Voegelin die „Immanentisierung des Eschatons“ nennt, mit anderen Worten auf der Annahme, daß das Ende der Geschichte in ihr selbst verzeichnet (immanent) ist, eine innerweltliche Erscheinungsform ist sowie das Ergebnis der eigenen inneren Bewegung der Geschichte in Richtung immer größerer Vollkommenheit: das Reich Gottes auf Erden innerhalb der Geschichte. Das steht an der Wurzel dessen, was wir heute unter „Fortschritt“ verstehen. Das sollte, wenngleich in verschiedener Weise, sowohl den radikalen Sozialismus als auch den liberalen Kapitalismus befördern. Und das hatte eine tiefe Wirkung auf das politische Leben, weil das sowohl die Revolution als auch den Säkularismus gebar. Nach Ratzinger scheiterte Bonaventura mit seiner Kritik; sie war nicht radikal genug. Aber was für Ratzingers künftige Beschäftigung mit politischem Denken von Bedeutung ist: Seine Sensitivität für die philosophischen und theologischen Fragenkreise, die dem heutigen politischen Leben zugrunde liegen, verdankt ihre Feinabstimmung seiner Studie zu Bonaventura. Das wird besonders deutlich in seiner späteren Behandlung der radikalen Formen der Theologie der Befreiung, die auf einem marxistischen Geschichtsbegriff gründen, dessen tiefste Wurzeln in den Spekulationen Joachims von Fiore liegen. |
5. Die frühe Zeit Als Fachwissenschaftler zuerst in Freising und dann in Bonn waren seine frühen Werke der Fundamentaltheologie gewidmet, vor allem der systematischen Reflexion auf die grundlegenden Prinzipien und Voraussetzungen der Theologie. Die behandelten Themen berücksichtigten das Wesen der Theologie als Wissenschaft, die Bedeutung der christlichen Offenbarung und somit der Überlieferung sowie das Wesen der Kirche (Ekklesiologie). Damit zusammenhängende Themen waren der Ökumenismus sowie die allgemeinere Frage nach dem Verhältnis der Kirche zu den Weltreligionen, und diese Frage galt in seinen späteren Schriften besonders dem Verhältnis von Christentum und Judentum. Joseph Ratzinger unterstreicht die Wesensverwandschaft der Vernunft und der Offenbarung (und somit die kirchliche Wertschätzung der Philosophie als Verbündete in ihrer aufgeklärten Kritik am Mythos in der Antike genauso wie heute). Für Ratzinger ist „Vernunft“ unsere Fähigkeit zur Wahrheit (und somit für Gott). Wie die Sprache ist die Vernunft ihrem Wesen nach gleichzeitig personal und kommunal, und das gilt auch für die Offenbarung, deren soziale Dimension im menschlich-göttlichen Komplex der Tradition bzw. der Kirche liegt. Ratzingers gesamtes theologisches Werk ist in der Heiligen Schrift als der letzten Norm aller Theologie verwurzelt, wobei er die Ergebnisse der modernen Exegese kritisch anwendet. (39) Seine Schriftauslegung geht jedoch über die moderne kritische Wissenschaft hinaus. Sie folgt dem Geist der Kirchenväter, deren Schriftauslegung auf der Einheit des Alten und Neuen Testaments gründet (wobei das Neue die Erfüllung des Alten ist) sowie auf der Entfaltung der Überlieferung unter der Leitung des Heiligen Geistes bis auf den heutigen Tag. (40) Die frühe Zeit war stark vom Zweiten Vatikanischen Konzil und seinen Nachwirkungen beeinflußt. Joseph Ratzinger veröffentlichte sowohl mehrere Kommentare zu Konzilstexten als auch persönliche Überlegungen zu den vier Sitzungsperioden des Konzils. Als er sich mit der kniffligen Frage nach dem allgemeinen Wesen des Heils und dem besonderen Wesen der Kirche befaßte, die das Konzil in neuerlicher Schärfe gestellt hatte (und die oft mit Anleihen an Rahners Schlagwort vom „anonymen Christentum“ ausgedrückt wurde), entwickelte Ratzinger sein Verständnis des Heils vermittels des Begriffs der Stellvertretung: Ebenso wie das fleischgewordene Wort Gottes sein Leben „für die vielen“ hingegeben hat, leben auch die einzelnen Christen nicht für sich selbst, sondern für andere, während die Kirche nicht für sich selbst existiert, sondern für die übrige Menschheit. Zu seinen Hauptwerken dieses Zeitraums gehören Offenbarung und Überlieferung (zusammen mit Karl Rahner, 1965), Das neue Volk Gottes (1969) und die Theologische Prinzipienlehre (1982), sein vielleicht wichtigstes wissenschaftliches Werk. |
6. Die mittlere Zeit Bevor wir einen Blick auf das werfen, was seine mittlere Zeit genannt werden könnte, möchte ich einräumen, daß solche Unterteilungen einigermaßen künstlich sind. Auch besteht die Gefahr, daß sie der grundlegenden Beständigkeit etwas nehmen könnten, die all seine Werke durchzieht. So kehrte Joseph Ratzinger zum Beispiel in seiner letzten Periode zu seinen früheren fundamentaltheologischen Interessen zurück, etwa mit Büchern wie Wesen und Auftrag der Theologie (1993) und Zur Gemeinschaft gerufen (1991), einem kurzen Lehrgang der Ekklesiologie, der die Frucht seines reifen Denkens enthält. Diese Werke waren stark von den spezifischeren dogmatischen Belangen beeinflußt, die seine Aufmerksamkeit während der mittleren Periode beansprucht hatten, als er Dogmatische Theologie und Dogmengeschichte lehrte, sowie später von verschiedenen pastoralen Herausforderungen, denen er als Erzbischof und Kardinal begegnete. Von Einfluß waren auch die zahlreichen Doktorarbeiten, die er betreute, darunter die von Martin Trimpe zur Theologie des Petrusdienstes des Bischofs von Rom bei Kardinal Reginald Pole. In diesem Zusammenhang ist auch die Habilitationsschrift von Stephan Otto Horn zu Papst Leo dem Großen und Chalkedon bedeutsam. Barthélémy Adoukonous Dissertation über die christliche Hermeneutik des Voodoo in Benin beeinflußte Ratzingers Theologie der Religionen und ihres Verhältnisses zum österlichen Geheimnis, während er sich bei seiner Analyse des Neomarxismus auf Friedrich Hartls Habilitationsschrift über Ernst Bloch und Franz von Baader stützte. Und noch viele andere könnte man anführen. In all seinen Werken wird die Kirche als gottmenschliche Wirklichkeit gesehen, die eine Communio bildet: die Menschheit im Prozeß ihrer Einswerdung, deren Quelle die Eucharistie ist, deren sichtbare Einheit durch den Petrusdienst des Bischofs von Rom innerhalb der apostolischen Nachfolge dargestellt und garantiert wird, und deren Ziel die Eingliederung der Menschheit in den Lebensrhythmus des dreifaltigen Gottes ist. In dieser mittleren Zeit (als Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte in Münster, Tübingen und Regensburg) entstand sein berühmtestes Buch Einführung in das Christentum (1968), das in 19 Sprachen einschließlich der arabischen und chinesischen übersetzt wurde. Sein schöpferisches Denken zum Wesen des Sakraments, das er in kleinen, gleichwohl bedeutenden Aufsätzen wie dem bereits erwähnten Die sakramentale Begründung christlicher Existenz (1966) entwickelte, harrt noch seiner Rezeption durch die etablierte Sakramententheologie, soweit ich sehen kann. Sein Denken zum Wesen der Kirche wurde bereichert durch seine Überlegungen zu den spezifischen dogmatischen Themen Schöpfung, Christologie, Trinität und Eschatologie sowie durch seine frühen Überlegungen zur Eucharistie und zum Wesen der Liturgie wie zum Beispiel in Das Fest des Glaubens. Versuche zur Theologie des Gottesdienstes (1981). Seine meisten Schriften zu den Dogmen der Kirche sind Gelegenheitsbeiträge zu laufenden Debatten und daher zumeist fragmentarischer Art. Einige der Grundsatzschriften finden sich in der Sammlung Dogma und Verkündigung (1973). Ebenfalls zu erwähnen sind seine kurzen Bücher Der Gott Jesu Christi. Betrachtungen über den Dreieinigen Gott (1976), Im Anfang schuf Gott. Vier Predigten über Schöpfung und Fall (1986, erweiterte Zweitauflage 1996) und Die Tochter Zion (1977), sein Hauptbeitrag zur Mariologie (aber nicht sein einziger). Das bedeutendste Buch dieser Zeit ist womöglich seine Eschatologie – Tod und ewiges Leben (1977), ein recht ausgearbeitetes systematisches Lehrbuch. Diese Periode ist auch von seiner wachsenden Beschäftigung mit Entwicklungen in der Katechese, der Vermittlung des Glaubens in Schulen und Gymnasien geprägt, was sich in Die Krise der Katechese und ihre Überwindung (1983) niederschlägt, einer in Frankreich gehaltenen Rede, die damals einen ziemlichen Sturm entfachte. Diese kritischen Überlegungen zur gegenwärtigen Lage der Katechese bereiteten ihn für seine Arbeit im Vorsitz der Kommission vor, die Papst Johannes Paul II. eingesetzt hatte, um die Abfassung des Katechismus der katholischen Kirche zu beaufsichtigen – der vielleicht bedeutendsten Leistung dieses Pontifikats. |
7. Die spätere Zeit Wie schon erwähnt führte Joseph Ratzinger als Kardinalpräfekt der Kongregation für die Glaubenslehre seine Forschungen weiter und veröffentlichte sie in wissenschaftlichen Zeitschriften. Obwohl diese Schriften als völlig verschieden von den offiziellen Dokumenten angesehen werden müssen, die seine Unterschrift trugen, wurden beide Kategorien wie gesagt oft miteinander in Verbindung gebracht. Seine wissenschaftlichen Schriften gehörten machmal zu seiner eigenen Vorbereitung auf die Entwürfe der offiziellen Dokumente oder waren spätere Überlegungen zu den Dokumenten, besonders zu ihrer Aufnahme durch das breitere Publikum. So etwa der ausführliche Beitrag, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 22. September 2000) als Antwort auf die Kontroverse erschien, welche die Veröffentlichung der Erklärung Dominus Iesus ausgelöst hatte, die den Absolutheitsanspruch Christi und die Einheit seiner Kirche unterstrich. Zu seinen Veröffentlichungen während dieser späteren Zeit gehören verschiedene Predigten, Reflexionen und geistliche Exerzitien, die er als Bischof und Hirt erteilte. Geprägt sind alle von tiefer Spiritualität, Einfachheit der Sprache und Schönheit des Ausdrucks, wie zum Beispiel Auf Christus schauen. Einübung in Glaube, Hoffnung, Liebe (1989). Seinem pastoralen Anliegen entstammen einige seiner besten Schriften zur Eucharistie wie zum Beispiel der Aufsatz Eucharistie und Mission (jetzt in: Weggemeinschaft des Glaubens, 2002, S. 79–106) sowie die von Stephan Otto Horn und Vinzenz Pfnür gesammelten Aufsätze und Predigten in Gott ist uns nah (2001). Bereits seit dem Konzil war Joseph Ratzinger von der Art und Weise beunruhigt, wie die theologischen Debatten sich recht drastisch von der Universität in die Medien verlagert hatten, wobei die Medien, gelinde gesagt, kein ideales Forum darstellen. Theologische Ideen, die noch nicht ausgereift waren, machten plötzlich Schlagzeilen. Die daraus folgende Verwirrung unter den einfachen Gläubigen, deren Glaubensleben und Andacht von den (notwendigen) Reformen des Vatikanums II bereits durcheinandergebracht waren, bereitete ihm wirkliche Sorgen – und ich denke, das ist immer noch der Fall. Theologie sollte inspirieren und Hoffnung geben, nicht Verwirrung und Verzweiflung stiften. Seine Predigten schon aus der Zeit als Kardinalerzbischof von München zeigen einen Theologen, der fähig ist, Herz und Geist der Gläubigen zu rühren (was die Welt zum ersten Mal weitgehend unerwartet wahrgenommen hat, als er beim Begräbnis Papst Johannes Pauls II. und nach seiner Wahl zum Papst predigte). Seine eigene Theologie in diesem späteren Stadium war von seinen neuen pastoralen Anliegen geprägt. Sein Podium war die Kanzel, und von dieser Zeit an stehen seine Predigten und geistlichen Reflexionen in der Tradition der großen Kirchenväter, die ihre Theologie als Antwort auf die Bedürfnisse ihrer Herden schmiedeten. Seine theologischen Anliegen waren oft von gegenwärtigen Entwicklungen in der Politik und in der Gesellschaft im allgemeinen bestimmt, besonders vom tiefgreifenden moralischen Relativismus, der das Gemeinwohl zerfrißt und menschliche Gemeinschaften untergräbt. Seine Aufgaben als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre waren ganz anderer Art. Dort hatte er die Parameter zu verteidigen, in denen die Theologie (einschließlich Ethik) und das Leben der Kirche zu verbleiben haben, wenn sie der katholischen und apostolischen Überlieferung treu bleiben sollen. Das alles war in einer sich rasch verändernden Welt der Hochtechnologie und des politischen Aufruhrs zu leisten sowie im Kontext einer Kirche, die noch immer unter den radikalen Änderungen taumelte, die das Zweite Vatikanische Konzil eingeführt hatte. Entwicklungen in Gesellschaft und Biotechnologie warfen neue gesellschaftliche und moralische Schwierigkeiten auf, die nach einer Verfeinerung traditioneller moralischer Prinzipien verlangten. In dieser Zeit befand sich die Moraltheologie selbst in einem Prozeß der Selbsterneuerung, wobei dieser Prozeß erst allmählich beginnt, zu einer Art von Abschluß zu finden. Entwicklungen im interreligiösen Dialog lösten weitere neue Fragen aus und benötigten weitere Klarstellungen. Das verlangte nach einer verbindlichen Antwort der Kirche, welche die Kongregation unter seiner Leitung auch gab, wobei die Antwort verständlicher46 weise nicht immer willkommen war. Und dennoch hielt er, wie bereits erwähnt, auch weiterhin Vorträge und veröffentlichte Aufsätze und Bücher in seiner Eigenschaft als Privattheologe, womit er in die Debatte eintrat und seine Ansichten einer kritischen Beurteilung preisgab. Diese Seite an ihm wurde nur von denen geschätzt, die von seinem Ruf als „Konservativer“ oder von seiner Eigenschaft als Präfekt der Glaubenskongregation nicht abgestoßen wurden. Hier liegen noch Schätze, die darauf warten, von jüngeren Theologen gehoben zu werden. Viele seiner neueren theologischen Schriften wurden durch seine Aufsichtspflicht veranlaßt, durch seine Verantwortung für die Antworten der Kongregation auf drängende Fragen wie zum Beispiel die Theologie der Befreiung oder die Bioethik. Andere wurden von seinen eigenen Hausarbeiten inspiriert, die er für die Treffen der Bibelkommission und der Internationalen Theologischen Kommission vorbereitete. Die Kommissionen schufen unter seinem Vorsitz so wichtige Dokumente wie das über die Interpretation der Bibel in der Kirche, das über das jüdische Volk im Neuen Testament und das über die Erneuerung der Moraltheologie. Seine eigenen Überlegungen zu diesen Themen wurden in theologischen Zeitschriften veröffentlicht und sind für seine eigene Meinung aufschlußreicher. (41) Als ein Beispiel dafür beziehe ich mich auf seinen Aufsatz zu den philosophischen und kulturellen Wurzeln aktueller Entwicklungen in der Biotechnologie mit Blick auf das Erzeugen von Menschen im Laboratorium, (42) der weit über die Aufgabenstellung von Donum vitae hinausgeht, der maßgeblichen Antwort der Kirche auf künstliche menschliche „Fortpflanzung“, eines der wichtigsten von der Glaubenskongregation herausgegebenen Dokumente. Sein Aufsatz beleuchtet dieses lehramtliche Dokument auf theologische Weise. Vom Zentrum der Weltkirche aus hatte Kardinal Ratzinger auch einen einzigartigen Blick auf die Weltereignisse, 47 die sich wiederum auf seine persönliche Theologie auswirkten. Diese Ereignisse – besonders die politischen Entwicklungen in Europa vor und nach dem Fall der Berliner Mauer, zu denen er sich furchtlos und wahrhaft prophetisch äußerte –, schlugen sich von dieser Zeit an in vielen Schriften nieder, die ich seine Theologie des Politischen nenne. In dieser späteren Periode neigten pastorale Anliegen dazu, seine theologischen Schriften zu dominieren. Sehr oft wurden sie von den verschiedenen Krisen angestoßen, die sich auf die Weltkirche auswirkten und eine verbindliche Stellungnahme der Kongregation für die Glaubenslehre erforderten. Zu den behandelten Fragen gehörten die Theologie der Befreiung, die dramatischen Entwicklungen in der Biotechnologie sowie zuletzt das Verhältnis zwischen dem Christentum und den Weltreligionen, zufällig eines der Themen, mit denen er in seiner frühen Ausbildungszeit als wissenschaftlicher Theologe zu tun gehabt hatte. Seine ausgereiften Überlegungen zu diesem letzten Thema finden sich in dem schon erwähnten Buch Wahrheit – Glaube – Toleranz (2003). In seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation gab Kardinal Ratzinger drei berühmte Interviews, die der Öffentlichkeit eine Kostprobe seiner Theologie vermittelten – wenngleich sie ihn ebenfalls in weitere öffentliche Kontroversen hineinzogen. Alle drei Interviews wurden innerhalb eines kurzen Zeitraums gegeben; das zweite und dritte fanden jeweils an einem Wochenende statt, als der Kardinal und der Journalist sich in ein Kloster außerhalb von Rom begaben und das ganze Wochenende mit Gesprächen verbrachten. Das erste Interview, mit dem italienischen Journalisten Vittorio Messori, wurde im Seminar von Brixen in Südtirol gegeben und 1985 unter dem Titel Zur Lage des Glaubens veröffentlicht. Vor allem der jüngeren Generation, die von der Theologie zunehmend frustriert war, die ihr in den Seminaren und (besonders) an der Universität erteilt wurde, öffnete dieses Buch die Augen; für die jüngeren Gläubigen war es eine Gelegenheit zur Befreiung. Das zweite Interview wurde Peter Seewald gegeben, einem damals abgefallenen Katholiken und hochangesehenen Journalisten der „linken“ Süddeutschen Zeitung. Es wurde unter dem Titel Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende veröffentlicht (1996). Dieser Interviewband deckt ein weitaus breiteres Themenfeld ab, einschließlich Joseph Ratzingers eigener Biographie sowie des Zustands der Welt, die sich anschickt, ins 21. Jahrhundert einzutreten. Das Buch hat viele inspiriert und besonders Angehörigen der älteren Generation neuen Mut geschenkt, die gläubig geblieben waren trotz der „Zuckerwatte-Theologie“, die ihnen damals dargeboten worden war, von der sie aber im Innersten ihres Herzens wußten, daß sie niemals die tieferen Fragen des menschlichen Geistes beantworten konnte. Derselbe Journalist, der mittlerweile in die Kirche zurückgekehrt ist, führte ein drittes Interview, das dem Wesen nach strenger theologisch war. Das Ergebnis war eine Art populärer Summa (oder populärer systematischer Behandlung) von Ratzingers Theologie mit dem Titel Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit (2000). Das Buch ist gewissermaßen ein Kommentar zur Gestalt und zum Inhalt unseres Glaubens. Ebenfalls zu erwähnen sind zwei Bücher, die er mit Blick auf das Ende seiner Zeit als Präfekt schrieb: seine Autobiographie Aus meinem Leben. Erinnerungen (1927–1977), (43) sowie drei Jahre später Der Geist der Liturgie. Eine Einführung (2000), vielleicht das wichtigste seiner Werke aus dieser späteren Periode. Joseph Ratzinger hoffte, daß diese Theologie der Liturgie, die er während eines Urlaubs in Regensburg verfaßt hatte, eine Erneuerung hervorbringen würde, ähnlich der liturgischen Erneuerungsbewegung, die ein von Romano Guardini 1918 veröffentlichtes Buch mit einem ähnlichen Titel ausgelöst hatte. |
8. Moraltheologie und Theologie des politischen Lebens Seine Reflexionen zur Moral sind hauptsächlich seiner mittleren Periode zuzuordnen (siehe zum Beispiel Prinzipien Christlicher Moral, 1975), während seine „Theologie des Politischen“ (44) bis zu seinen ersten Forschungen – seiner Dissertation und seiner Habilitationsschrift – und seinen ersten Werken als selbständiger Autor zurückverfolgt werden kann, wie zum Beispiel Die christliche Brüderlichkeit (1960) und Die Einheit der Nationen. Eine Vision der Kirchenväter (1971); beide schreiben Einsichten fort, die schon in seiner Doktorarbeit auftauchen. Unter anderem ist Die Einheit der Nationen faszinierend wegen der Einblicke in das potentiell Böse des Nationalismus und seiner Bedrohung der Kirche, was zuerst von Origenes von Alexandrien, dem Begründer der spekulativen Theologie im 3. Jahrhundert, wahrgenommen wurde. In seiner Zeit als Erzbischof von München führten seine von einigen Entwicklungen auf dem Feld der europäischen Politik angestoßenen pastoralen Anliegen zu einer ausgereiften Theologie des Politischen; frühe Andeutungen davon tauchen zum Beispiel in den zwölf Predigten auf, die unter dem Titel Christlicher Glaube und Europa (1981) veröffentlicht wurden. Eine repräsentative Auswahl seiner Schriften zur Theologie des Politischen (einschließlich eines wichtigen Aufsatzes zur Theologie der Befreiung) findet sich in dem Band Kirche, Ökumene und Politik (1987). Joseph Ratzinger bezeichnet diese Sammlung als Versuche zur Ekklesiologie, da Politik so wie Ökumene ein Aspekt seiner Theologie der Kirche sind. Seine Theologie des Politischen verbindet eine Kritik der Moderne (verstanden als der Wille, eine vollkommene Gesellschaft durch Sozialtechnik im Sinne der einen oder anderen politischen Ideologie zu schaffen) mit dem Versuch, den Beitrag des Christentums zu einer humanen Gesellschaft und zur modernen Demokratie zu entwerfen. Hierbei spielt das Gewissen – im Sinne einer persönlichen moralischen Verantwortung – eine Schlüsselrolle, wie wir noch sehen werden. Ebenso bedeutsam ist die Einsicht, daß es gemäß der Sicht des Neuen Testaments keinen Raum für eine „politische Theologie“ (wie zum Beispiel die Befreiungstheologie) gibt und daß deswegen auch keine Schablone für die Politik (und daher keine Rechtfertigung für politische Ideologien im strengen Sinn des Wortes) vorliegt. Politik ist die „Kunst des Möglichen“, die Arena der praktischen Vernunft (welche die ausgeübten Tugenden der Klugheit und Gerechtigkeit einschließt) und somit der Kompromisse – wenngleich innerhalb der prinzipiell unverhandelbaren moralischen Parameter, obwohl diese wegen des herrschenden Rationalismus und Utilitarismus nicht mehr als solche anerkannt werden. Ebenfalls bedeutend für die Einschätzung seines politischen Denkens ist die Sammlung von Vorträgen, die unter dem Titel Wendezeit für Europa? (1991) veröffentlicht wurde, sowie vor allem Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft (1993); neben anderen Themen enthält dieser Band seinen wichtigsten Beitrag zur Moraltheologie, nämlich sein Verständnis des Gewissens, das Gegenstand des Kapitels 5 weiter unten sein wird. In Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen (2005) bespricht der damalige Kardinal Ratzinger Wege zur Wiedererlangung eines moralischen Konsenses, der in einer von Globalisierung und Multikulturalität geprägten Welt sowohl objektiv als auch universal trägt. In diesem Buch kehrt er immer wieder zur Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft zurück, die schon 1959 das Thema seiner Bonner Antrittsvorlesung als theologischer „Grünschnabel“ gewesen war. Nun ragt das Thema als ein Aspekt eines größeren und komplexeren Bildes hervor: der Herausforderungen der heutigen Gesellschaft angesichts des modernen Terrorismus, der Entwicklungen in der Biotechnologie, der Globalisierung und der Untergrabung der traditionellen Wegweisungen in allen Gesellschaften, die von den Nachwirkungen der Aufklärung sowie besonders von der Allgegenwart höchst einflußreicher Massenmedien betroffen sind. Joseph Ratzinger legt dar, daß Glaube und Vernunft, Offenbarung und Aufklärung einander brauchen, um das Potential des jeweils anderen freizusetzen, so daß beide sich den Gefahren stellen und sie überwinden können, die der Menschheit heute und in unmittelbarer Zukunft drohen. Hierbei vereint Ratzinger, wie in allen seinen Werken, Gelehrtheit und Originalität. Seine Analyse aktueller Trends mündet in Voraussagen für die Zukunft, und alles findet sich in einer Sprache ausgedrückt, die den Leser stets anregt, und in einer Klarheit, die über die Tiefe der außerordentlichen Originalität seiner theologischen Reflexionen hinwegtäuscht, die ihre Wurzeln in der Vernunft und der Offenbarung haben. © SANKT ULRICH VERLAG GmbH AUGSBURG |