5. Jungfräulichkeit

Unter den evangelischen Räten ist wohl die Jungfräulichkeit derjenige, der ein geweihtes Leben am stärksten prägt. Es ist daher angemessen, im Jahr des geweihten Lebens die Gedanken des emeritierten Papstes zu diesem Thema darzustellen.

Wenn Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. über die Ehe reflektierte, hat er häufig eine Betrachtung über die Alternative zur Ehe, den evangelischen Rat der Jungfräulichkeit angefügt. Dies geschah offensichtlich in Anlehnung an die Lehre Jesu über die Ehe, wie sie uns in Mt 19,1-12 überliefert ist. Hier sollen einige dieser Überlegungen dargestellt werden.

Am 27. März 1968, also in seiner Zeit als Professor an der Universität Tübingen, hielt Joseph Ratzinger in Heilsbronn bei Ansbach im Rahmen der Arbeitstagung des von Kardinal Jaeger und Bischof Stählin geleiteten ökumenischen Arbeitskreises einen Vortrag „zur Theologie der Ehe“. In einer Schlußbemerkung setzt er sich dort mit der christlichen Jungfräulichkeit auseinander. Er zeichnet sie als zweite mögliche christliche Existenz neben der Ehe und hebt ihren eschatologischen Charakter hervor.

Dass Christus, der einerseits die Ehe unendlich über das hinaushebt, was sie je vor ihm sein konnte, indem er sie ganz theologisch deutet und damit ihre christologische Auslegung ermöglicht, gleichzeitig die Ehe in einer Weise relativiert, wie das im Alten Testament unvorstellbar gewesen wäre, indem er den dem Alten Testament unbekannten Wert der Jungfräulichkeit als christliche Existenzform schafft, entspricht ganz und gar der inneren Struktur seiner Botschaft und hat von daher nichts Zufälliges und Zeitbedingtes an sich, wie es dann freilich in den frühesten Realisierungsformen von Paulus an sichtbar wird. Dass er selbst als Eheloser durch die Welt geht, ist von seinem Selbstverständnis gefordert: Die Kinder sind im Alten Testament der Segen, weil sie Leben sind, weil sie Zukunft sind und weil sie so den Weg in die Verheißung eröffnen. Er ist nicht mehr der Weg zur Verheißung, sondern die Verheißung selbst; er braucht nicht mehr Leben und Zukunft in Kindern zu suchen, sondern er ist das Leben und die Zukunft der Menschheit, die eigentliche ζωή, worüber hinaus es keine andere Zukunft und kein anderes Leben mehr gibt. Er schließt ab, indem er aufschließt auf das Leben hin, das jenseits der Biologie und deshalb auch jenseits des Todes liegt. Darum definiert er selbst die eschatologische Existenz als eine ehelose Existenz. Ehelosigkeit hat jetzt Sinn, so wie sie ihn vorher nicht hatte: als direkte Realisierung des Glaubens an das schon präsente ewige Leben.

Von da aus hat die Kirche die Ehelosigkeit als die eigentlich christologische bzw. eschatologische Existenz angesehen. Das Mehr an Seligkeit (beatius) das Trient der Ehelosigkeit gegenüber der Ehe zuschreibt und das die ganze Tradition vom Neuen Testament an hinter sich hat, drückt eben dies aus: dass sie das Spezifischere der mit Christus angebrochenen Heilsphase direkter und radikaler ausdrückt als die Ehe. Von da aus ist jene Identifikation von Jungfräulichkeit und μαρτυρία (beziehungsweise Martyrium) zu verstehen, die das erste Stadium der Theologie der Jungfräulichkeit bestimmt: Jungfräulichkeit ist das Realisieren des Glaubens an die Realität des eschatologischen Lebens in „Fleisch und Blut“. Ihre Gemeinsamkeit mit dem Martyrium besteht eben darin, dass sie als Pfand des Glaubens die irdische Existenz, die σάρξ, selbst hinwirft und sie abschneiden lässt von sich selber. Christliche Jungfräulichkeit beruht also nicht auf einer Missachtung der Ehe, so wenig das Martyrium auf der Missachtung des Lebens beruht; sie setzt vielmehr voraus, dass an sich ein Leben ohne Ehe Preisgabe an die Sinnlosigkeit ist, so wie wegen eines gestreuten oder nicht gestreuten Weihrauchkorns zu sterben Sinnlosigkeit ist. Aber gerade in der Preisgabe an das irdisch Sinnlose liegt das mit der ganzen Sarx, d. h. mit der ganzen irdischen Existenz, abgelegte „Zeugnis“ für die Realität des Glaubens.

Es braucht nicht eigens gesagt zu werden, dass auch die Jungfräulichkeit konkret immer nur aus dem Glauben an die Vergebung, aus dem Wissen um das Simul iustus et peccator gelebt werden kann. Weder sie noch die Ehe schafft dem Menschen eine eigene Gerechtigkeit: Beide zwingen ihn je auf ihre Weise, sich ganz der Gerechtigkeit dessen zu überlassen, der für uns Sünde geworden ist und durch den wir Gerechtigkeit geworden sind vor Gott zu ewigem Leben.
(Vgl. JRGS 4, 600-621)

Im Jahre 1981 veröffentlichte Papst Johannes Paul II. sein apostolisches Schreiben zu Ehe und Familie „Familiaris Consortio“. Kardinal Joseph Ratzinger – gerade zum Präfekten der Glaubenskongregation ernannt – verfasste zu diesem Schreiben für den „Osservatore Romano“ einen Kommentar. Auch das apostolische Schreiben hält sich an das genannte Schema aus Mt 19,1-12. Kardinal Ratzinger betont wieder den eschatologischen Charakter der Jungfräulichkeit, aber auch das in dem apostolischen Schreiben dargestellte Zusammengehörige von Ehe und Jungfräulichkeit.

Wenn das christliche Bild der Ehe aus der innersten Mitte von Schöpfung und Erlösung entwickelt wird, kann leicht der Eindruck entstehen, als gäbe es da zwei widersprüchliche Linien in der christlichen Theologie – auf der einen Seite das Lob der Ehe und auf der anderen die Rühmung der Jungfräulichkeit; man kann dann fürchten, je nach Bedarf wäre das Eine oder das Andere hervor­gezogen. Deswegen war es schon den Synodenvätern wichtig erschienen, das Ganze der christlichen Lehre, das Zusammengehörige von Ehe und Jungfräulichkeit darzustellen. Der Papst hat diesen Duktus der Synode aufgegriffen. Er stellt heraus, daß Ehe und Jungfräulichkeit die beiden Weisen sind, das eine Geheimnis des Bundes zwischen Gott und seinem Volk darzustellen. „Wenn die menschliche Se­xualität nicht als ein hoher, vom Schöpfer geschenkter Wert betrachtet wird, verliert auch der um des Himmelreiches Willen geleistete Verzicht auf sie seine Bedeutung.

Tatsächlich setzt die Jungfräulichkeit das Ja zur Ehe, das Ja zur sittlichen Würde des Leibes voraus und verstärkt es. Sie kann nicht durch Verachtung, durch Ekel gedeihen, sondern nur durch Ehrfurcht. Gnostische d.h. dualistische und leibverachtende Kulturen sind praktisch immer auch permissive Kulturen. Verachtung führt nicht zu Enthaltung, sondern zu Permissivität und umgekehrt: Enthaltung ist auf Dauer nur auf dem Grund der Bejahung möglich. Sie kann nur gedeihen, wenn der Leib als die konkrete Seinsweise der Person in Ehren steht. denn wenn dies nicht der Fall ist, wird sie belanglos und unerheblich. Jung­fräulichkeit bedeutet nach dem apostolischen Schreiben, daß der Mensch als Ganzer,auch mit seinem Leib in der Erwartung der eschatologischen Hochzeit Jesu Christi steht und seine Gewißheit auch mit seinem Leib beglaubigt.

Das Gemeinsame von Ehe und Jungfräulichkeit ist also in der Unterschiedenheit der Darstellungsweisen die Zuordnung zu dem Bundesgeheimnis der Liebe Gottes; das Gemeinsame ist folglich die Überzeugung, daß Geist und Leib, daß Mensch­sein und Gottsein zueinander gehören. Das Gemeinsame ist vor allem auch die Treue, die mit dem ganzen Menschen, d.h. im Leib vollzogen und öffentlich vor der Gemeinschaft der Menschen verantwortet wird. Auf diesen Punkt insistiert der Papst besonders: „Die christlichen Eheleute haben daher das Recht, sich von jungfräulichen Menschen das gute Beispiel und das Zeugnis der Treue zu ihrer Berufung bis zum Tod zu erwarten.“ Gemeinsam ist aber nicht zuletzt auch die Fruchtbarkeit, so verschieden sie in ihrer konkreten Weise ist. Gerade der jungfräuliche Mensch erlebt eine neue Weise der Vaterschaft und der Mutterschaft, „wird Vater und Mutter vieler, hilft mit bei der Verwirklichung derFamilie nach dem Plan Gottes.“

So entsteht in dem Schreiben auf wenigen Seiten ein eindrucksvolles Bild der menschlichen Berufung zur Liebe aus der Überlieferung des christlichen Glau­bens heraus. Im Streit um den Menschen, den wir heute erleben, sollte dieses Bild mit Nachdruck vertreten und mit Entschiedenheit gelebt werden – es ist unsere Antwort auf die Entwürdigung des Menschen,die unter dem Vorwand seiner Befreiung um sich greift. Es ist die grundlegende Verteidigung der Menschen­würde, ohne die die Menschenrechte nicht glaubhaft werden und nicht bestehen können. Der Text ist eine Ermutigung für die Christenheit und eine große Aufgabe zugleich.
(Vgl.Münchener Ordinariatskorrespondenz) Nr. 3 vom 21. 1. 1982).

Dieser Linie ist Joseph Ratzinger während seines Pontifikats als Papst Benedikt XVI. treu geblieben.

Eine weitere besondere Form der Nachfolge Christi ist die Berufung zum geweihten Leben: Sie findet ihren Ausdruck in einem armen, keuschen und gehorsamen Dasein, das in der Kontemplation und im Gebet ganz Gott gewidmet ist und das sich in den Dienst an den Brüdern und Schwestern, vor allem an den Kleinen und Armen, stellt.
(Benedikt XVI., Ansprache zum Angelusgebet am 7. Mai 2006)

Am 22. Mai 2006 wandte sich Papst Benedikt XVI. an die in Rom versammelten Generalobern und Generaloberinnen der Institute geweihten Lebens. Dabei legte er dar, was Jungfräulichkeit für ihn meint: in besonderer Weise Christus zu gehören.

Dem Herrn gehören: Das ist die Sendung der Männer und Frauen, die sich entschieden haben, dem keuschen, armen und gehorsamen Christus nachzufolgen, damit die Welt glaubt und gerettet wird: ganz Christus zu gehören und so zu einem beständigen Glaubensbekenntnis zu werden, zu einer unmissverständlichen Verkündigung der Wahrheit, die von der Verführung durch falsche Götzen befreit, von denen die Welt geblendet ist, Christus gehören bedeutet, im Herzen stets eine lebendige Flamme der Liebe brennen zu lassen, die fortwährend vom Reichtum des Glaubens genährt wird, und das nicht nur dann, wenn sie innere Freude mit sich bringt, sondern auch dann, wenn sie mit Schwierigkeiten, Trockenheit oder Leiden verbunden ist.
(Benedikt XVI., Ansprache an die Generalobern und Generaloberinnen der Institute geweihten Lebens
am 22. Mai 2006)

Der Papst macht also deutlich,, was es heißt, in dieser Weise ganz dem Herrn zu gehören. Ebenso sagt er:

Eine Vorbedingung für die Nachfolge Christi ist also der Verzicht, die Loslösung von allem, was er nicht ist. Der Herr will keine gebundenen, sondern freie Männer und Frauen, die imstande sind, alles zu verlassen , um ihm nachzufolgen und nur in ihm ihr ein und alles zu finden.
(Ansprache an die Generalobern und Generaloberinnen der Institute geweihten Lebens am 22. Mai 2006)

Diese besondere Nachfolge Christi erfordert aber nicht nur Verzicht: ein Leben in Jungfräulichkeit entspricht nicht gerade den vorstellungen dieser Welt. Wer sich für ein solches Leben entscheidet, setzt sich daher in gewisser Weise in Widerspruch zur Welt.

Um ganz dem Herrn zu gehören, nehmen die geweihten Personen einen keuschen Lebensstil an. Die geweihte Jungfräulichkeit passt nicht in den Rahmen der Logik dieser Welt; sie ist das „unvernünftigste“ der christlichen Paradoxa, und nicht allen Menschen ist es gegeben, sie zu erfassen und zu leben (vgl. Mt 19,11-12). Ein keusches Leben führen bedeutet auch, auf das Geltungsbedürfnis zu verzichten und einen einfachen, bescheidenen Lebensstil anzunehmen. Die Ordensleute sind aufgerufen, ihn auch in der Wahl der Kleidung zu zeigen, einfacher Kleidung, die Zeichen der Armut sein soll, die in Vereinigung mit Christus gelebt wird, der reich war, aber arm wurde, um uns durch seine Armut reich zu machen (vgl. 2 Kor 8,9). So, und nur so, kann man dem gekreuzigten und armen Christus vorbehaltlos nachfolgen, indem man in sein Geheimnis eintaucht und sich seine selbstgewählte Demut, Armut und Sanftmut zu eigen macht.
(Benedikt XVI., Ansprache an die Generalobern und Generaloberinnen der Institute geweihten Lebens
am 22. Mai 2006)

Auch die Zusammengehörigkeit von Ehe und Jungfräulichkeit betont Papst Benedikt XVI. weiterhin.

Wir dürfen ebenfalls nicht vergessen, dass auch die christliche Ehe im vollen Sinne eine Berufung zu Heiligkeit darstellt und dass das Vorbild heiliger Eltern die erste Voraussetzung ist, um das Aufblühen von Priester- und Ordensberufungen zu fördern.
(Benedikt XVI., Ansprache zum Angelusgebet am 7. Mai 2006)

Grund dieser Gleichwertigkeit ist für den Papst die gemeinsame Verwurzelung von Ehe und Jungfräulichkeit in der bräutlichen Liebe Christi. So führt er in seiner Ansprache zum Angelusgebet am 30. August 2009, also in dem von ihm ausgerufenen Priesterjahr, aus, dass sich Ehe und Jungfräulichkeit gegenseitig erleuchten:

Wenn sich die Gatten großherzig der Erziehung der Kinder widmen und sie so zur Entdeckung des Liebesplanes Gottes hinführen und auf ihn ausrichten, bereiten sie jenen fruchtbaren geistlichen Boden vor, aus dem die Berufungen zum Priestertum und zum geweihten Leben hervorgehen und reifen. Auf diese Weise wird offenbar, wie sehr die Ehe und die Jungfräulichkeit, ausgehend von ihrer gemeinsamen Verwurzelung in der bräutlichen Liebe Christi, zuinnerst miteinander verbunden sind und sich gegenseitig erleuchten.
(Benedikt XVI., Ansprache zum Angelusgebet am 30. August 2009)

Auch in dieser Ansprache hebt Benedikt XVI. also das Vorbild heiliger Eltern als Voraussetzung für eine Berufung zum geweihten Leben hervor, wenn er sagt:

Die Geschichte des Christentums ist voll von zahllosen Beispielen heiliger Eltern und echter christlicher Familien, die das Leben großherziger Priester und Hirten der Kirche begleitet haben. Man denke an die heiligen Basilius den Großen und Gregor von Nazianz, die beide zu Familien von Heiligen gehörten. Denken wir in unserer unmittelbaren Nähe an die Eheleute Luigi Beltrame Quattrocchi und Maria Corsini, die zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts gelebt haben und von meinem verehrten Vorgänger Johannes Paul II. im Oktober 2001 anlässlich des 20. Jahrestages des Apostolischen Schreibens Familiaris consortio selig gesprochen wurden.
(Benedikt XVI., Ansprache zum Angelusgebet am 30. August 2009)

Vorbild in diesem Sinn ist für Papst Benedikt insbesondere die heilige Monika.

Vor drei Tagen, am 27. August, haben wir den liturgischen Gedenktag der heiligen Monika begangen, der Mutter des heiligen Augustinus, die als Vorbild und Schutzpatronin der christlichen Mütter angesehen wird. Ihr Sohn berichtet uns in seinem autobiographischen Werk „Die Bekenntnisse“, einem der meistgelesenen Meisterwerke aller Zeiten, viel über sie. Dort erfahren wir, dass der heilige Augustinus den Namen Jesu mit der Muttermilch getrunken hat und von der Mutter in der christlichen Religion erzogen wurde, deren Prinzipien ihm auch in den Jahren der geistlichen und moralischen Wirren eingeprägt bleiben werden. Monika hörte nie auf, für ihn und seine Bekehrung zu beten, und es wurde ihr der Trost zuteil, dass sie sehen durfte, wie er zum Glauben zurückkehrte und die Taufe empfing. Gott erhörte die Gebete dieser heiligen Mutter, zu der der Bischof von Thagaste gesagt hatte: „Es ist unmöglich, dass ein Kind so vieler Tränen verloren geht.“ In Wirklichkeit bekehrte sich der heilige Augustinus nicht nur, sondern er fasste sogar den Entschluss, das monastische Leben aufzunehmen, und nach seiner Rückkehr nach Afrika gründete er selbst eine Gemeinschaft von Mönchen. ….“. Jahrelang war ihr einziger Wunsch die Bekehrung des Augustinus gewesen, von dem sie nun sogar sah, dass er sich auf ein Leben der Weihe im Dienst Gottes ausrichtete.
(Benedikt XVI., Ansprache zum Angelusgebet am 30. August 2009