Aus dem Werk
Jahr des geweihten Lebens 2014/2015:
Texte von Joseph Ratzinger/ Papst Benedikt XVI.
4. Kontemplatives Leben
Es ist zurecht darauf hingewiesen worden, dass das theologische Denken Joseph Ratzingers/Papst Benedikts XVI. einen christologischen Schwerpunkt aufweist. Allein die Tatsache, dass Benedikt XVI. während seines Pontifikats (2005-2013) eine annähernd tausendseitige Buchtrilogie über „Jesus von Nazareth“ (2007, 2011, 2012) veröffentlicht hat, zeugt von der Bedeutung, die er der Gründungsgestalt des Christentums beimisst.
In Vorwort zum ersten, 2007 veröffentlichten Band schrieb er über die Intention seines Werkes über Jesus Christus: „Gewiss brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens ’nach dem Angesicht des Herrn'(vgl. Ps 27,8)“ ( „Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung“, Freiburg-Basel-Wien 2007, S. 22)
In der christlichen Tradition wird dieses buchstäbliche „Ausschauhalten nach Jesus“ als „Kontemplation“ bezeichnet (lat.contemplari „anschauen“, „betrachten“). Im von Joseph Ratzinger maßgeblich mitgestalteten und mitformulierten „Katechismus der Katholischen Kirche“ von 1992 heißt es hierzu:
„Die Beschauung [Kontemplation] ist gläubiges Hinschauen auf Jesus. … Dieses aufmerksame Schauen auf Jesus ist Verzicht auf das „Ich“, denn der Blick Jesu reinigt das Herz. Das Licht seines Antlitzes erleuchtet die Augen unseres Herzens und lässt uns alles im Licht seiner Wahrheit und seines Mitleids mit allen Menschen sehen. Die Kontemplation sieht auf die Mysterien des Lebens Christi und lernt auf diese Weise ‚die innere Erkenntnis des Herrn‘, um ihn mehr zu lieben und ihm besser nachzufolgen“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2715 ).
Wer obenstehende Worte aufmerksam liest kann feststellen, wie sehr sich das christliche Kontemplationsverständnis vom dem anderer Religionen unterscheidet. Denn gerade im Vergleich zu fernöstlichen Religionen, in denen sich die Annäherung an die Gottheit vor allem auf dem Weg mystizistischer Meditationstechniken vollzieht und letztendlich auf das Ziel hinausläuft, innerlich entleert in einer nebulösen, unpersönlichen Gottheit aufzugehen, zeigt die christliche Mystik einen anderen Weg zu Gott auf. Bezeichnenderweise beginnt der christlich-kontemplative Weg auch nicht durch die Initiative des Menschen, sondern ist ein Geschenk Gottes, wie die Glaubenskongregation unter dem Vorsitz von Joseph Kardinal Ratzinger in dem äußerst lesenswerten Schreiben „Orationis formas“ („Über einige Aspekte der christlichen Meditation“) deutlich macht:
„Die echte christliche Mystik hat nichts mit Technik zu schaffen: Sie ist immer ein Geschenk Gottes, dessen sich der Empfänger unwürdig fühlt.“ (Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre vom 15. Oktober 1989 an die Bischöfe der Katholischen Kirche über einige Aspekte der christlichen Meditation , Orationis formas, Nr. 23)
Das unter Federführung von Joseph Ratzinger entstandene Schreiben macht keinen Hehl daraus, dass sowohl meditative Übungen sowie Gebete nur wirklich dann als christlich betrachtet werden können, wenn diese den personalen christlichen Gott im Zentrum haben sowie christuszentriert und gemeinschaftsorientiert bleiben:
„Christliches Gebet ist … immer zugleich echt persönlich und gemeinschaftsbezogen. Es meidet unpersönliche oder auf das Ich konzentrierte Techniken, die automatische Abläufe hervorbringen, bei denen der Betende in einem rein innerlichen Spiritualismus gefangen bleibt und zum freien Sich-Öffnen für den transzendenten Gott unfähig wird.“ (Ebd., Nr. 3)
Gleichzeitig jedoch zeugt das von Kardinal Ratzinger verantwortete Schreiben von einem großen Verständnis gegenüber denjenigen Gläubigen, die sich aus dem Bedürfnis nach
„geistlicher Sammlung und (einem) tief reichende(n) Kontakt mit dem göttlichen Geheimnis“ (Ebd., Nr. 1)
und in Ermangelung der Kenntnis der eigenen Tradition heraus auch außerchristlichen Gebetsmethoden und Meditationstechniken zugewendet haben.
Die Glaubenskongregation billigt in ihrem Schreiben Versenkungsmethoden, wenn die Intention ihrer Anwendung nicht darin besteht, diese für ein nebulöses „Einswerden“ mit einer dem Christentum inkompatiblen Gottheit zu verwenden, sondern – sie vielmehr als eine Art „Vorübung“ betrachtet und- zur Gewinnung innerer Ruhe genutzt wird, um so zur Grundlage für eine wahrhaft christuszentrierte Kontemplation zu avancieren.
Die Glaubenskongregation fasst deshalb unter Federführung von Kardinal Ratzinger zusammen, dass unter diesem Gesichtspunkt „echte Praktiken der Meditation, die aus dem christlichen Osten und aus den nichtchristlichen Hochreligionen stammen und auf den gespaltenen und orientierungslosen Menschen von heute Anziehungskraft ausüben, ein geeignetes Hilfsmittel für den Betenden darstellen können, sogar mitten im äußeren Trubel innerlich entspannt vor Gott zu stehen.“ (Ebd., Nr. 28)
Als wahrhaft „kontemplativen Menschen“ betrachtet Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. denjenigen, der sich immer wieder in die Stille zurückzieht, um Gott nahe zu sein. Viele dieser Menschen haben sich ganz in den Dienst Gottes nehmen lassen um ein Leben im Gebet in den kontemplativen Klöstern führen zu können. Dass Benedikt XVI. diese Form der christlichen Frömmigkeit sehr schätzt, steht außer Zweifel – denn letztendlich lebt er diese Lebensform seit Inkrafttreten seines Amtsverzichts selbst.
In einer Homilie, die er für dreizehn Dominikanerinnen am Rande Roms im Jahr 2010 hielt, umriss er nicht nur eindrucksvoll die Aufgabe des kontemplativen Menschen in der Kirche, sondern drückte auch seine uneingeschränkte Wertschätzung für diese Lebensweise aus:
„Liebe Schwestern, eure Gemeinschaft ist ein Ort, an dem ihr beim Herrn wohnen könnt; sie ist für euch das neue Jerusalem, zu dem die Stämme des Herrn hinaufziehen, um den Namen des Herrn zu preisen (vgl. Ps 121,4). Seid der göttlichen Vorsehung dankbar für die erhabene und ungeschuldete Gabe der monastischen Berufung, zu der euch der Herr völlig unverdient gerufen hat. Mit Jesaja könnt ihr von euch behaupten: „…der Herr hat mich schon im Mutterleib zu seinem Knecht gemacht“ (Jes 49,5). Noch bevor ihr geboren wurdet, hat der Herr euer Herz für sich bewahrt, um es mit seiner Liebe erfüllen zu können. Durch das Sakrament der Taufe habt ihr die göttliche Gnade empfangen und seid, eingetaucht in seinen Tod und seine Auferstehung, Jesus geweiht worden, um ihm allein anzugehören. Die Art des kontemplativen Lebens, die ihr aus den Händen des hl. Dominikus in Form der Klausur empfangen habt, stellt euch als lebendige und lebensnotwendige Glieder mitten ins Herz des mystischen Leibes des Herrn, der die Kirche ist; und ebenso wie das Herz das Blut zum Zirkulieren bringt und den ganzen Leib am Leben hält, so trägt auch euer verborgenes Leben mit Christus, das von Arbeit und Gebet geprägt ist, zum Erhalt der Kirche bei, die Werkzeug des Heils für jeden Menschen ist, den der Herr mit seinem Blut erlöst hat.
Aus dieser unversiegbaren Quelle schöpft ihr mit eurem Gebet, indem ihr vor den Allerhöchsten die geistlichen und materiellen Bedürfnisse so vieler Brüder und Schwestern in Not und das orientierungslose Leben all jener bringt, die sich vom Herrn entfernt haben. Wie könnte man nicht Mitleid empfinden für diejenigen, die ziellos umherzuirren scheinen? Wie könnte man sich nicht wünschen, daß es in ihrem Leben zur Begegnung mit Jesus komme, der allein dem Leben einen Sinn verleihen kann? Die heilige Sehnsucht, daß das Reich Gottes im Herzen eines jeden Menschen Raum finde, ist mit dem Gebet selbst gleichzusetzen, wie es uns der hl. Augustinus lehrt: „Ipsum desiderium tuum, oratio tua est; et si continuum desiderium, continua oratio“ (vgl. Ep. 130,18–20); wie das Feuer, das brennt und nie verlöscht, so bleibt auch das Herz immer wach und voller Sehnsucht, und unablässig erhebt es sein Loblied zu Gott.“ (Predigt von Papst Benedikt XVI., Dominikanerinnenkloster „Santa Maria del Rosario“, 24. Juni 2010)
Und er schließt die Homilie mit Worten, die daran erinnern, dass das kontemplative Leben zu einem „Mehr“ an Liebe nicht nur führen soll, sondern sogar muss:
„Liebe Schwestern, achtet daher darauf, daß über die jeweiligen Momente des Gebets hinaus euer Herz in allem, was ihr tut, stets von der Sehnsucht geleitet wird, Gott zu lieben. Mit dem Bischof von Hippo möget ihr erkennen, daß der Herr selbst seine Liebe in eure Herzen gelegt hat, eine Sehnsucht, die eurem Herzen Weite schenkt und es befähigt, Gott selbst aufzunehmen (vgl. In Io. Ev. tr. 40,10). Dies ist der Horizont eures irdischen Pilgerweges! Dies ist euer Ziel! Aus diesem Grund habt ihr euch dafür entschieden, im Verborgenen und im Verzicht auf irdische Güter zu leben: damit ihr vor allem jenes eine, unvergleichliche Gut erstreben könnt, jene wertvolle Perle, für die es sich lohnt, auf jedes andere Gut zu verzichten, um in ihren Besitz zu kommen.
Möget ihr jeden Tag euer „Ja“ zu den Plänen Gottes sprechen können, mit derselben Demut, mit der auch die selige Jungfrau ihr „Ja“ gesprochen hat. Sie, die das Wort Gottes in Stille aufgenommen hat, führe euch Tag für Tag in eurer jungfräulichen Lebenshingabe, damit ihr im Verborgenen jene tiefe Innerlichkeit verspüren könnt, die sie selbst mit Jesus erlebt hat.“ (Ebd.)
Ein kontemplativer Mensch ist ein Mensch des Gebets, der Stille und der Liebe. Joseph Ratzinger beziehungsweise Papst Benedikt XVI. ist es deshalb immer wichtig gewesen, Gläubige dazu zu ermutigen, das überaus reiche mystisch-spirituelle Erbe in Ost und West zu entdecken und neu kennenzulernen. Während seines Pontifikates wurde Benedikt XVI. deshalb auch nicht müde, in unzähligen Katechesen, Reden oder Schreiben den geistlich-theologischen Schatz der großen griechischen und lateinischen Kirchenlehrer zu heben.
Dabei blieb er jedoch nicht beim Erbe der Westkirche stehen: Denn er stellte beispielsweise in seinen Katechesen über die Kirchenlehrer und Kirchenväter neben ihm persönlich besonders wichtigen Heiligen wie dem Apostel Paulus, Augustinus oder Bonaventura auch große spirituelle Meister und Heilige des christlichen Ostens vor wie zum Beispiel Basilius den Großen oder Johannes Klimakos und Symeon den Neuen Theologen. Letztere gelten als Vertreter des „Hesychasmus“, einer für die gesamte orthodoxe Spiritualität bedeutsamen mystisch-kontemplativen Strömung, deren Zentrum auf dem Berg Athos zu verorten und deren Ziel das Erlangen der hesychia, der „Herzensruhe“, ist. Ein wichtiges Gebet, das von den Hesychasten zur Erreichung dieses Zustandes ununterbrochen gebetet wird, ist das „Jesusgebet“ – über welches Benedikt XVI. in der Katechese über Johannes Klimakos (über den er in eben dieser Katechese sagte, „daß von ihm das Licht ausstrahlte, das von Mose auf dem Sinai gesehen und von den drei Aposteln auf dem Tabor geschaut worden war!“) auch ausführlich spricht:
“ Der Zustand der Ruhe, des inneren Friedens bereitet den Hesychasten auf das Gebet vor, das bei Johannes ein zweifaches ist: das „leibliche Gebet“ und das „Gebet des Herzens“. Das erste gehört zu dem, der sich von Körperhaltungen helfen lassen muß: die Hände ausstrecken, ein Seufzen von sich geben, sich auf die Brust schlagen usw. (15,26; 900); das zweite ist spontan, da es eine Wirkung des Erwachens der geistlichen Sensibilität ist, Geschenk Gottes für den, der sich dem leiblichen Gebet widmet. Bei Johannes nimmt es den Namen „Jesusgebet“ an (Iesoû euché) und besteht in der Anrufung allein des Namens Jesu, eine ständige, mit dem Atem einhergehende Anrufung: „Das Gedächtnis Jesu werde ganz eins mit deinem Atem, und dann wirst du den Nutzen der hesychía kennen“, des inneren Friedens (27/2,26; 1112). Schließlich wird das Gebet sehr einfach, einfach das Wort „Jesus“, eins geworden mit unserem Atem.“ (Generalaudienz, 11. Februar 2009)
Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. ist es – wie man sehen kann – mit zu verdanken, dass auch Grundpfeiler der ostkirchlichen Spiritualität Eingang in das Glaubensgut der westlichen Kirche und allgemeine Akzeptanz gefunden haben. Neben seinen Katechesen über wichtige Heilige und Mystiker der Ostkirche sowie bereits mit der Einfügung des „Jesusgebets“ in den von ihm mitverantworteten Katechismus der katholischen Kirche (vgl. KKK 430-435 sowie 2666-2668; 2688 f.) hat er – betont unaufdringlich – den katholischen Christen neben dem Rosenkranz ein weiteres bewährtes kontemplatives Gebet zur Seite gestellt und damit ganz nebenbei wichtige ökumenische Brücken zur Orthodoxie geschlagen.
Eine Betrachtung über den Begriff des kontemplativen Lebens bei Benedikt XVI. wäre jedoch nicht vollständig, wenn nicht darauf hingewiesen werden würde, dass für diesen sowohl ein kontemplatives als auch ein aktives Leben sich nicht gegenseitig ausschließen. Wie es bereits in seiner Homilie für die Dominikanerinnen in „Santa Maria del Rosario“ anklang, muss ein kontemplatives Leben zu einem „mehr“ an Liebe führen – und damit auch unweigerlich zu einem „Mehr“ an Nächstenliebe.
In einer seiner letzten Schriften, nämlich seiner Botschaft zur Fastenzeit 2013, macht er die Verwiesenheit von Kontemplation und Aktion aufeinander deutlich – und hinterlässt gleichzeitig mit folgenden Zeilen ein kleines spirituelles Erbe:
„Das christliche Leben besteht darin, den Berg der Begegnung mit Gott immer wieder hinaufzusteigen, um dann, bereichert durch die Liebe und die Kraft, die sie uns schenkt, wieder hinabzusteigen und unseren Brüdern und Schwestern mit der gleichen Liebe Gottes zu dienen. In der Heiligen Schrift sehen wir, daß der Eifer der Apostel für die Verkündigung des Evangeliums, die den Glauben weckt, eng mit der liebenden Sorge für den Dienst an den Armen verbunden ist (vgl. Apg 6,1-4). In der Kirche müssen Kontemplation und Aktion, die in gewisser Hinsicht durch die Gestalten der Schwestern Maria und Marta im Evangelium versinnbildlicht werden, miteinander bestehen und sich gegenseitig ergänzen (vgl. Lk 10,38-42).“ (Benedikt XVI.: Botschaft zur Fastenzeit 2013)