Aus dem Werk

Stephan Otto Horn, Siegfried Wiedenhofer
Schöpfung und Evolution
Eine Tagung mit Papst Benedikt XVI. in Castelgandolfo.
Erscheinungsjahr: 2007,
Sankt Ulrich Verlag
ISBN 978-3-86744-018-9

Eine Tagung mit Papst Benedikt XVI. in Castelgandolfo
SCHÖPFUNG UND EVOLUTION

Einführung

Wie die Antrittsvorlesung des jungen Theologen Ratzinger an der Bonner Universität zeigt, gehört es von Anfang an zu seinen wesentlichen Absichten, zu einem fruchtbaren Gespräch von Glaube und Vernunft beizutragen. Die Fragen, welche die Evolutionstheorie dem christlichen Schöpfungsglauben stellt, sind für ihn eine höchst brisante Herausforderung für die Theologie. Mit der Tagung seines Schülerkreises in Castelgandolfo über Schöpfung und Evolution und mit der Publikation der Referate und Gespräche wollte er einen Anstoß geben, sich dieser Aufgabe mit neuer Kraft zu widmen. Wir legen hier die Einführung von Kardinal Christoph Schönborn in das im Auftrag des Schülerkreises herausgegebene Buch „Schöpfung und Evolution. Eine Tagung mit Papst Benedikt XVI. in Castelgandolfo“ vor. Er zitiert in ihr wichtige Stellungnahmen von Joseph Ratzinger.

Wir stellen ein Zitat aus den Gesprächsbeiträgen des Papstes in Castelgandolfo voraus, der hier wie in seinem Jesusbuch als Theologe spricht. (Seite 151-152)

„Die Naturwissenschaft hat große Dimensionen der Vernunft erschlossen, die bisher nicht eröffnet waren, und uns dadurch neue Erkenntnisse vermittelt. Aber in der Freude über die Größe ihrer Entdeckung tendiert sie dazu, uns Dimensionen der Vernunft wegzunehmen, die wir weiterhin brauchen. Ihre Ergebnisse führen zu Fragen, die über ihren methodischen Kanon hinausreichen, sich darin nicht beantworten lassen. Dennoch sind es Fragen, die die Vernunft stellen muss und die nicht einfach dem religiösen Gefühl überlassen werden dürfen. Man muss sie als vernünftige Fragen sehen und dafür auch vernünftige Weisen des Behandelns finden. Es sind die großen Urfragen der Philosophie, die auf neue Weise vor uns stehen: die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen und der Welt. Dabei ist mir zweierlei neuerlich bewusst geworden, was auch die drei folgenden Referate verdeutlicht haben: Es gibt zum einen eine Rationalität der Materie selbst. Man kann sie lesen. Sie hat eine Mathematik in sich, sie ist selbst vernünftig, selbst wenn es auf dem langen Weg der Evolution Irrationales, Chaotisches und Zerstörerisches gibt. Aber als solche ist Materie lesbar. Zum anderen scheint mir, dass auch der Prozess als Ganzer eine Rationalität hat. Trotz seiner Irrungen und Wirrungen durch den schmalen Korridor hindurch, in der Auswahl der wenigen positiven Mutationen und in der Ausnützung der geringen Wahrscheinlichkeit, ist der Prozess als solcher etwas Rationales. Diese doppelte Rationalität, die sich wiederum unserer menschlichen Vernunft korrespondierend erschließt, führt zwangsläufig zu einer Frage, die über die Wissenschaft hinausgeht, aber doch eine Vernunftfrage ist: Woher stammt diese Rationalität? Gibt es eine ursprunggebende Rationalität, die sich in diesen beiden Zonen und Dimensionen von Rationalität spiegelt.“

Vorwort von Christoph Kardinal Schönborn (Seite 7-22)

„Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedanken Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht“ (aus der Predigt Papst Benedikts XVI. anläßlich seiner Amtseinführung).

Im Jahre 1985 fand in Rom ein Symposion zum Thema „Evolutionismus und Christentum“ statt. Es wurde von Prof. Robert Spaemann und seinem Münchner philosophischen Lehrstuhl organisiert. Gastgeber war die Glaubenskongregation des Heiligen Stuhls unter der Leitung ihres damaligen Präfekten, Kardinal Joseph Ratzinger. Was der heutige Heilige Vater damals im „Geleitwort“ zur Veröffentlichung der Akten dieses Symposiums (1) schrieb, kann bestens auch als Einführung in die Akten des Kolloquiums dienen, das sein Schülerkreis (2) auf seine Einladung hin vom 1. bis 3. September 2006 in Castelgandolfo abhalten durfte.
Es mangelte nicht an Medieninteresse für dieses Schülerkreistreffen. Die Debatte über Schöpfung und Evolution, über Glauben und Wissenschaft, über Ziel oder Zufall im Werdeprozeß unserer Welt hat in den vergangenen Monaten hohe Wellen geschlagen. Mein Artikel vom 7. Juli 2005 in der New York Times hat hier ein wenig als Katalysator gewirkt. Die Diskussion liegt freilich längst in der Luft. Sie wird durch viele Faktoren immer neu belebt und ist bei weitem nicht abgeschlossen. Und sie ist dringend notwendig. Warum das so ist, hat Papst Benedikt XVI. in zahlreichen Stellungnahmen darzulegen versucht.
Manche Befürchtungen wurden in den letzten Monaten laut, die Kirche könnte ihre Position bezüglich Schöpfungsglauben und Evolutionslehre revidieren. Doch welche ist genau die Sicht der Kirche in dieser Frage? Niemand ist berufener dies zu sagen, als der langjährige Präfekt der römischen Glaubenskongregation, der eminente Theologe und Lehrer, Papst Benedikt XVI. Im Folgenden seien deshalb einige seiner Äußerungen zu diesem Thema etwas ausführlicher dokumentiert. Beginnen wir mit einem längeren Zitat aus dem Geleitwort zum Symposiumsband von 1986:

Der Disput zwischen Glaube und Evolutionslehre, im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. mit einiger Heftigkeit geführt, schien in der Mitte dieses Jahrhunderts einigermaßen zu einer friedlichen Lösung gelangt zu sein. Die Enzyklika Humani generis vom 12. August 1950 hatte die Frage der Entstehung der einzelnen Arten des Lebendigen der Kompetenz naturwissenschaftlicher Forschung überlassen und lediglich den anthropologischen Vorbehalt festgehalten, daß der Mensch nicht allein aus biologischen Zusammenhängen erklärt werden könne; als geistbeseeltes Wesen sei jeder ein neuer Anfang, der aus dem Biologischen nicht ableitbar ist, sondern auf den Schöpfer verweist. Bei diesem Friedensschluß war freilich der Streit um den Menschen nicht ganz geschlichtet: Schon bald wußten auch Theologen nichts mehr mit dem Begriff der „Seele“ und ihrer unmittelbaren Erschaffung durch Gott anzufangen. Das klassische anthropologische Modell, in dem das Unverzichtbare des Glaubens formuliert wurde, ließ sich nicht leicht mit dem völlig anders gearteten Denkansatz der Evolutionstheorie und ihrem umfassenden Erklärungsanspruch vereinbaren, der vor dem Menschen nicht Halt machen wollte. Etwa zur selben Zeit wurde dann die neue Vision bekannt, mit der Teilhard de Chardin die Totalität naturwissenschaftlichen Denkens mit der Totalität der theologischen Schau des Menschen zu vereinigen versuchte. Von den Intuitionen Teilhards sind zweifellos vielfältige Anregungen ausgegangen, die das philosophische und theologische Gespräch mit der Naturwissenschaft befruchtet haben. Eine letzte Antwort konnten sie nicht sein, weil seine naturwissenschaftlichen Grundlagen sich im wesentlichen auf den anatomischen und morphologischen Bereich (unter Ausklammerung der genetischen Prozesse) beschränkten, aber auch die philosophische und theologische Begriffsbildung unbefriedigend blieb. Heute ist insofern ein neues Stadium der Debatte erreicht, als „Evolution“ über ihren naturwissenschaftlichen Gehalt hinaus zu einem Denkmodell erhoben worden ist, das mit dem Anspruch auf Erklärung des Ganzen der Wirklichkeit auftritt und so zu einer Art von „erster Philosophie“ geworden ist Wenn das Mittelalter eine „Rückführung aller Wissenschaft auf die Theologie“ (Bonaventura) versucht hatte, so kann man hier von einer Rückführung aller Realität auf „Evolution“ sprechen, die auch Erkenntnis, Ethos, Religion aus dem Generalschema Evolution glaubt ableiten zu können. Daß diese Philosophie sich als scheinbar reine Auslegung naturwissenschaftlicher Erkenntnis darbietet, sich mit ihr geradezu identifiziert, gibt ihr eine fast unwidersprechliche Plausibilität, die inmitten der allgemeinen Krise philosophischen Denkens nur um so wirksamer ist.
Wenn man diese Entwicklung der Evolutionsfrage aufmerksam beobachtet, so ist unverkennbar, daß wir hier vor einer völlig neuen Gesprächssituation stehen, die nicht mit den Parametern des im 19. Jahrhundert ausgetragenen Streits zwischen Naturwissenschaft und Theologie gemessen werden kann. Zwar gab es auch damals philosophische Ausweitungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die zu Unrecht deren Gewißheit für unbewiesene Denkmodelle in Anspruch nahmen. Aber die heutige Form evolutionärer Philosophie, die sozusagen nur das Ganze naturwissenschaftlicher Erkenntnis zusammenzuschauen scheint und damit zugleich den Blick ins Gewebe des Seins bis in seine letzten Gründe und bis in seine konkretesten Entfaltungen geben will, ist doch etwas Neues. Hier sind die Grenzübergänge zwischen Naturwissenschaft und Philosophie zum einen häufig sehr schwer zu definieren, zum anderen aber doch äußerst folgenreich, weil die Stimmigkeit des Ganzen jedes andere Erklärungsprinzip ausschließt Die Rückführung aller Realität auf Materie erreicht damit eine Totalität, wie sie im 19. Jahrhundert noch kaum vorstellbar war.
Wenn es für den Glauben heute keine Schwierigkeit mehr bereitet, die naturwissenschaftliche Hypothese Evolution sich gemäß ihrer eigenen Methoden ruhig entfalten zu lassen, so ist der Totalanspruch des philosophischen Erklärungsmodells „Evolution“ um so mehr eine radikale Anfrage an Glaube und Theologie. Daß Umdeutungen, „Umfunktionierungen“ oft weit gefährlicher sind als glatte Leugnungen, liegt auf der Hand. Um so wichtiger ist es, hier die richtige Gesprächsebene zu finden. Auf keinen Fall sollte der Anschein eines neuen Streits zwischen Naturwissenschaft und Glaube entstehen, um den es in der Tat in diesem Gespräch in keiner Weise geht Die eigentliche Gesprächsebene ist die des philosophischen Denkens: Wo Naturwissenschaft zur Philosophie wird, ist es die Philosophie, die sich mit ihr auseinandersetzen muß. Nur so stehen die Gesprächsfronten richtig; nur so bleibt deutlich, worum es sich handelt: um einen rationalen philosophischen Disput, der auf die Sachlichkeit rationalen Erkennens abzielt, nicht um einen Einspruch von Glaube gegen Vernunft …

Der Heilige Vater betont nicht erst seit der berühmten Regensburger Rede die Wichtigkeit der Vernunft in der Vermittlung zwischen Naturwissenschaft und Glauben. Schon vor fast 40 Jahren nahm Professor Ratzinger zu diesem Thema im Grunde die Position ein, die der eben zitierte Text von 1986 eindrücklich belegt. In einer Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks aus dem Jahr 1968 nahm der damals in Tübingen lehrende Theologe ausführlich zum Thema „Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie“ Stellung. Wir bringen einen größeren Teil dieser Ansprache:(3)

Um hier vorwärtszukommen, müssen wir sowohl den Schöpfungsbericht als auch die Idee der Evolution genauer untersuchen; beides kann hier leider nur in Andeutungen geschehen. Fragen wir also, von letzterer ausgehend, zunächst: Wie versteht man eigentlich die Welt, wenn man sie evolutiv auffaßt? Wesentlich dafür ist wohl, daß Sein und Zeit in eine feste Beziehung treten: Das Sein ist Zeit, es hat nicht bloß Zeit. Nur im Werden ist es und entfaltet es sich zu sich selbst. Demgemäß ist das Sein dynamisch verstanden, als Seinsbewegung, und es ist gerichtet verstanden: es kreist nicht im immer Gleichen, sondern schreitet voran. Zwar wird über die Anwendbarkeit des Begriffs Fortschritt auf die Evolutionskette gestritten, zumal man über keinen neutralen Maßstab verfügt, der gestatten würde, zu sagen, was eigentlich als besser oder weniger gut anzusehen sei und wann man folglich im Ernst von einem Voranschreiten sprechen dürfe.
Allein, das besondere Verhältnis, das der Mensch zur ganzen übrigen Wirklichkeit einnimmt, berechtigt ihn, jedenfalls für die Frage nach sich selbst, sich als Bezugspunkt anzusehen: Soweit es um ihn geht, ist er dazu ohne Zweifel berechtigt. Und wenn er so mißt, ist die Richtung der Evolution und ihr Fortschrittscharakter im letzten unbestreitbar, auch wenn man dabei nicht übersieht, daß es Sackgassen der Evolution gibt und daß ihr Weg weit davon entfernt ist, gradlinig zu verlaufen. Auch Umwege sind ein Weg, und auch auf Umwegen kommt man ans Ziel, wie gerade die Evolution selber zeigt. Die Frage, ob das solchermaßen als Weg verstandene Sein, die Evolution im ganzen, einen Sinn habe, bleibt dabei freilich offen, und sie kann auch nicht innerhalb der Evolutionstheorie selbst entschieden werden; für sie ist das eine methodenfremde Frage, für den lebendigen Menschen freilich ist es die Grundfrage des Ganzen. Die Naturwissenschaft erklärt dazu heute in richtiger Erkenntnis ihrer Grenzen, daß diese dem Menschen unerläßliche Frage nicht innerwissenschaftlich, sondern nur im Rahmen eines „Glaubenssystems“ beantwortet werden könne. Daß viele dabei der Meinung sind, das christliche „Glaubenssystem“ sei dafür nicht geeignet, sondern man müsse ein neues finden, braucht uns hier nicht zu beschäftigen, weil sie damit eine Aussage innerhalb ihrer eigenen Glaubensentscheidung und außerhalb ihrer Wissenschaft geben.
Damit sind wir aber jetzt in die Lage versetzt, präzis zu sagen, was der Schöpfungsglaube im Blick auf das evolutive Verständnis der Welt bedeutet. Angesichts der durch die Evolutionstheorie selbst nicht zu beantwortenden Grundfrage, ob hier Sinnlosigkeit oder Sinn walte, drückt er die Überzeugung aus, daß die Welt als ganze, wie die Bibel sagt, aus dem Logos, das heißt aus dem schöpferischen Sinn, hervorkommt und die zeitliche Form seines Selbstvollzugs darstellt. Schöpfung ist, von unserem Weltverständnis her betrachtet, nicht ein ferner Anfang und auch nicht ein auf mehrere Stadien verteilter Anfang, sondern sie betrifft das Sein als zeitliches und werdendes: das zeitliche Sein ist als ganzes umspannt von dem einen schöpferischen Akt Gottes, der ihm in seiner Zerteilung seine Einheit gibt, in der zugleich sein Sinn besteht, der uns nicht nachrechenbar ist, weil wir nicht das Ganze sehen, sondern selbst nur Teile sind. Der Schöpfungsglaube sagt uns nicht das Was des Weltsinnes, sondern nur sein Daß: dies ganze Auf und Ab des werdenden Seins ist freier und unter dem Risiko der Freiheit stehender Vollzug des schöpferischen Urgedankens, von dem er sein Sein hat. Und so wird uns vielleicht heute mehr verständlich, was christliche Schöpfungslehre zwar immer schon sagte, aber unter dem Eindruck der antiken Modelle kaum zur Geltung bringen konnte: Schöpfung ist nicht nach dem Muster des Handwerkers zu denken, der allerlei Gegenstände macht, sondern in der Weise, in der das Denken schöpferisch ist. Und zugleich wird sichtbar, daß das Ganze der Seinsbewegung (nicht bloß der Anfang) Schöpfung ist und daß ebenso das Ganze (nicht bloß das später Kommende) Eigenwirklichkeit und Eigenbewegung ist. Fassen wir dies alles zusammen, so können wir sagen: An Schöpfung glauben heißt die von der Wissenschaft erschlossene Werdewelt im Glauben als eine sinnvolle, aus schöpferischem Sinn kommende Welt verstehen.
Damit zeichnet sich aber auch die Antwort auf die Frage nach der Erschaffung des Menschen bereits deutlich ab, weil nun über die Stellung von Geist und Sinn in der Welt die grundlegende Entscheidung gefallen ist: die Anerkennung der Werdewelt als Selbstvollzug eines schöpferischen Gedankens schließt ihre Rückführung auf das Schöpfertum des Geistes, auf den Creator Spiritus, mit ein. Bei Teilhard de Chardin findet sich zu dieser Frage folgende geistvolle Bemerkung: „Was einen Materialisten von einem Spiritualisten unterscheidet, ist keineswegs mehr (wie in der fixierenden Philosophie) die Tatsache, daß er einen Übergang zwischen physischer Infra-Struktur und psychischer Super-Struktur der Dinge zuläßt, sondern nur, daß er den endgültigen Gleichgewichtspunkt der kosmischen Bewegung zu Unrecht auf seiten der Infra-Struktur, das heißt des Zerfalls, setzt.“ Über Einzelheiten dieser Formulierung wird man sicher streiten können; das Entscheidende scheint mir hier aber treffsicher erfaßt: die Alternative Materialismus oder geistig bestimmte Weltbetrachtung, Zufall oder Sinn, stellt sich uns heute in der Form der Frage dar, ob man den Geist und das Leben in seinen ansteigenden Formen nur als einen zufälligen Schimmel auf der Oberfläche des Materiellen (das heißt des sich nicht selbst verstehenden Seienden) oder ob man ihn als das Ziel des Geschehens ansieht und damit umgekehrt die Materie als Vorgeschichte des Geistes betrachtet. Trifft man die zweite Wahl, so ist damit klar, daß der Geist nicht ein Zufallsprodukt materieller Entwicklungen ist, sondern daß vielmehr die Materie ein Moment an der Geschichte des Geistes bedeutet. Dies aber ist nur ein anderer Ausdruck für die Aussage, daß Geist geschaffen und nicht pures Produkt der Entwicklung ist, auch wenn er in der Weise der Entwicklung in Erscheinung tritt.
Damit sind wir nun an der Stelle angelangt, an der die Frage beantwortbar wird, wie denn die theologische Aussage von der besonderen Erschaffung des Menschen mit einem evolutiven Weltbild zusammen bestehen könne, beziehungsweise welche Form sie in einem evolutiven Weltbild annehmen müsse. Das im einzelnen zu behandeln würde freilich den Rahmen dieses Versuchs überschreiten; ein paar Andeutungen müssen genügen. Da wäre denn zuerst daran zu erinnern, daß auch hinsichtlich der Erschaffung des Menschen die Schöpfung nicht einen fernen Anfang bezeichnet, sondern mit Adam jeden von uns meint: jeder Mensch ist direkt zu Gott. Der Glaube behauptet vom ersten Menschen nicht mehr als von jedem von uns und umgekehrt von uns nicht weniger als vom ersten Menschen.
Jeder Mensch ist mehr als das Produkt von Erbanlage und Umwelt, keiner resultiert allein aus den errechenbaren innerweltlichen Faktoren, das Geheimnis der Schöpfung steht über jedem von uns. Sodann wäre die Einsicht aufzugreifen, daß Geist nicht als etwas Fremdes, als eine andere, zweite Substanz zur Materie hinzutritt; das Auftreten des Geistes bedeutet nach dem Gesagten vielmehr, daß eine voranschreitende Bewegung an dem ihr zugewiesenen Ziel ankommt. Schließlich wäre zu sagen, daß man gerade die Erschaffung des 15 Geistes sich am allerwenigsten als ein handwerkliches Tun Gottes vorstellen darf, der hier plötzlich in der Welt zu hantieren beginnen würde.
Wenn Schöpfung Seinsabhängigkeit bedeutet, so ist besondere Schöpfung nichts anderes als besondere Seinsabhängigkeit. Die Behauptung, der Mensch sei in einer spezifischeren, direkteren Weise von Gott geschaffen als die Naturdinge, bedeutet, etwas weniger bildhaft ausgedrückt, einfach dies, daß der Mensch in einer spezifischen Weise von Gott gewollt ist: nicht bloß als ein Wesen, das „da ist“, sondern als ein Wesen, das ihn kennt; nicht nur als Gebilde, das er gedacht hat, sondern als Existenz, die ihn wieder denken kann. Dieses spezifische Gewolltsein und Gekanntsein des Menschen von Gott nennen wir seine besondere Erschaffung.
Von da aus wird man geradezu eine Diagnose über die Form der Menschwerdung aufstellen dürfen: Der Lehm war in dem Augenblick zum Menschen geworden, in dem ein Wesen erstmals, wenn auch noch so verschattet, den Gedanken Gott zu bilden vermochte. Das erste Du, das – wie stammelnd auch immer – von Menschenmund zu Gott gesagt wurde, bezeichnet den Augenblick, in dem der Geist aufgestanden war in der Welt. Hier war der Rubikon der Menschwerdung überschritten. Denn nicht die Benutzung von Waffen oder von Feuer, nicht neue Methoden der Grausamkeit oder des Nutzbetriebs machen den Menschen aus, sondern seine Fähigkeit, unmittelbar zu Gott zu sein. Dies hält die Lehre von der besonderen Erschaffung des Menschen fest; darin liegt die Mitte des Schöpfungsglaubens überhaupt. Darin liegt auch der Grund, weshalb der Augenblick der Menschwerdung von der Paläontologie unmöglich fixiert werden kann: Menschwerdung ist das Aufstehen des Geistes, den man mit dem Spaten nicht ausgraben kann. Die Evolutionstheorie hebt den Glauben nicht auf; sie bestätigt ihn auch nicht. Aber sie fordert ihn heraus, sich selbst tiefer zu verstehen und so dem Menschen zu helfen, sich zu verstehen und mehr und mehr zu werden, der er ist: das Wesen, das in Ewigkeit zu Gott Du sagen soll.

Als Theologe hat der Heilige Vater schon früh und immer wieder auf die Defizite an Schöpfungslehre in weiten Bereichen der neueren Theologie hingewiesen und vor den Konsequenzen dieses „praktischen Aufgebens der Schöpfungslehre“ gewarnt. (4) Als Erzbischof von München hat Kardinal Ratzinger deshalb dem Thema Schöpfung in seiner Verkündigung einen vorrangigen Platz gegeben. Die vier Fastenpredigten des Frühjahrs 1981 bezeugen es. Bald darauf berief ihn Papst Johannes Paul II. an die Kurie nach Rom. 1985 schrieb er: „In den folgenden Jahren ist mir von meiner neuen Aufgabe her der Notstand des Schöpfungsthemas in der heutigen Verkündigung noch deutlicher geworden“.(5)
Seine berühmte Rede über die Lage der Katechese, die er in den Kathedralen von Lyon und Paris hielt, (6) betonte nachdrücklich die Notwendigkeit einer Erneuerung der Schöpfungskatechese als Grundlage jeder Heilsverkündigung. 1985 baten die Väter der Außerordentlichen Sitzung der Bischofssynode Papst Johannes Paul II., er möge die Schaffung eines Katechismus des II. Vaticanums veranlassen. 1986 ernannte der Papst den Mann seines Vertrauens, Kardinal Ratzinger, zum verantwortlichen Leiter jener Kommission, die die Erstellung des gewünschten Katechismus leisten sollte.
Es ist daher nicht verwunderlich, daß die katholische Glaubenslehre bezüglich der Schöpfung im neuen Katechismus der Katholischen Kirche einen breiten Raum einnimmt (Nr. 279– 384). Manche haben kritisiert, daß der Katechismus nicht ausdrücklich zum Thema der Evolution Stellung nimmt. Auch wenn das Wort selber nicht vorkommt, so wird die Sache doch klar angesprochen (vgl. Nr. 283–285). Es ist nicht Aufgabe des Katechismus, die Diskussion über Schöpfungsglauben und Evolutionslehre zu führen. Dazu sind andere Foren geeigneter.
Auf einer ganz prominenten Agora der geistigen Auseinandersetzung, auf der Sorbonne in Paris, hielt Kardinal Ratzinger am 27. November 1999 eine Rede, die meines Wissens die ausführlichste Stellungnahme zu unserem Thema aus seiner Feder darstellt. Sie sei deshalb hier auch in extenso zitiert:(7)

Die durch das christliche Denken vollzogene Trennung von Physik und Metaphysik wird immer mehr zurückgenommen. Alles soll wieder „Physik“ werden. Immer mehr hat sich die Evolutionstheorie als der Weg herauskristallisiert, um Metaphysik endlich verschwinden, die „Hypothese Gott“ (Laplace) überflüssig werden zu lassen und eine streng „wissenschaftliche“ Erklärung der Welt zu formulieren. Eine umfassend das Ganze alles Wirklichen erklärende Evolutionstheorie ist zu einer Art „erster Philosophie“ geworden, die sozusagen die eigentliche Grundlage für das aufgeklärte Verständnis der Welt darstellt. Jeder Versuch, andere als die in einer solchen „positiven“ Theorie erarbeiteten Ursachen ins Spiel zu bringen, jeder Versuch von „Metaphysik“ muß als Rückfall hinter die Aufklärung, als Ausstieg aus dem Universalanspruch der Wissenschaft erscheinen. Damit muß der christliche Gottesgedanke als unwissenschaftlich gelten. Ihm entspricht keine theologia physica mehr: Die einzige theologia naturalis ist in solcher Sicht die Evolutionslehre, und die kennt eben keinen Gott, weder einen Schöpfer im Sinn des Christentums (des Judentums und des Islam), noch auch eine Weltseele oder innere Triebkraft im Sinn der Stoa. Allenfalls könnte man im Sinn des Buddhismus diese ganze Welt als Schein und das Nichts als das eigentlich Wirkliche betrachten und in diesem Sinn mystische Religionsformen rechtfertigen, die wenigstens mit der Aufklärung nicht direkt konkurrieren.
Ist damit das letzte Wort gesprochen, sind Vernunft und Christentum demnach definitiv voneinander getrennt? Jedenfalls führt an dem Disput über die Reichweite der Evolutionslehre als erster Philosophie und über die Ausschließlichkeit positiver Methode als einziger Weise von Wissenschaft und von Rationalität kein Weg vorbei. Dieser Disput muß daher von beiden Seiten sachlich und hörbereit in Angriff genommen werden, was bisher nur in geringem Maß geschehen ist. Niemand wird die wissenschaftlichen Beweise für die mikroevolutiven Prozesse ernstlich in Zweifel ziehen können. Reinhard Junker und Siegfried Scherer sagen dazu in ihrem „kritischen Lehrbuch“ über die Evolution: „Solche Vorgänge (mikroevolutive Prozesse) sind vielfach aus natürlichen Variations- und Ausbildungsprozessen bekannt. Ihre Erforschung durch die Evolutionsbiologie ergab bedeutende Einsichten in die genial erscheinende Anpassungsfähigkeit lebender Systeme.“ Sie sagen dementsprechend, man könne Ursprungsforschung mit Fug und Recht als die Königsdisziplin der Biologie bezeichnen.
Nicht darauf bezieht sich daher die Frage, die ein Gläubiger der modernen Vernunft gegenüber stellen wird, sondern auf die Ausdehnung zu einer philosophia universalis, die zur Gesamterklärung des Wirklichen werden will und keine andere Ebene des Denkens mehr übriglassen möchte. Innerhalb der Evolutionslehre selbst deutet sich das Problem an beim Übergang von der Mikro- zur Makroevolution, zu dem Szathmáry und Maynard Smith, beide überzeugte Anhänger einer umfassenden Evolutionstheorie, immerhin erklären: „Es gibt keinen theoretischen Grund, der erwarten lassen würde, daß evolutionäre Linien mit der Zeit an Komplexität zunehmen; es gibt auch keine empirischen Belege, daß dies geschieht.“ Die Frage, die hier zu stellen ist, reicht freilich tiefer: Es geht darum, ob die Evolutionslehre als Universaltheorie alles Wirklichen auftreten darf, über die hinaus weitere Fragen nach Ursprung und Wesen der Dinge nicht mehr zulässig und auch nicht mehr nötig sind, oder ob solche Letztfragen nicht doch den Bereich des rein naturwissenschaftlich Erforschbaren überschreiten. Ich möchte die Frage noch konkreter stellen. Ist alles gesagt mit einem Typus von Antworten, wie wir ihn etwa bei Popper in folgender Formulierung finden: „Das Leben, so wie wir es kennen, besteht aus physikalischen ‚Körpern‘ (besser aus Prozessen und Strukturen), die Probleme lösen. Das haben die verschiedenen Arten durch die natürliche Auslese ‚gelernt‘, das heißt, durch die Methode von Reproduktion plus Variation; eine Methode, die ihrerseits nach der gleichen Methode erlernt wurde. Das ist ein Regreß, aber er ist nicht unendlich …“? Ich glaube nicht. Letzten Endes geht es um eine Alternative, die sich bloß naturwissenschaftlich und im Grunde auch philosophisch nicht mehr auflösen läßt. Es geht um die Frage, ob die Vernunft bzw. das Vernünftige am Anfang aller Dinge und auf ihrem Grunde steht oder nicht.
Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit (oder mit Popper im Anschluß an Butler aus luck und cunning – glücklicher Zufall und Voraussicht), also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist, oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat Verbum – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. Diese Letztfrage kann nicht mehr, wie schon gesagt, durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinn gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. Aber kann eigentlich die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben? Das von Popper vorgeführte Erklärungsmodell, das in anderen Darstellungen der „ersten Philosophie“ in verschiedenen Variationen wiederkehrt, zeigt, daß die Vernunft gar nicht anders kann, als auch das Unvernünftige nach ihrem Maß, also vernünftig zu denken (Probleme lösen, Methode erlernen!), womit sie implizit doch wieder den eben geleugneten Primat der Vernunft aufrichtet. Durch seine Option für den Primat der Vernunft bleibt das Christentum auch heute „Aufklärung“, und ich denke, daß eine Aufklärung, die diese Option abstreift, allem Anschein zuwider nicht eine Evolution, sondern eine Involution der Aufklärung bedeuten müßte.
Wir hatten gesehen, daß in der Konzeption der frühen Christenheit die Begriffe von Natur, Mensch, Gott, Ethos und Religion unlösbar ineinander verknotet waren und daß zur Einsichtigkeit des Christentums in der Krise der Götter und in der Krise der antiken Aufklärung gerade diese Verknüpfung beigetragen hatte. Die Orientierung der Religion an einer vernünftigen Sicht der Wirklichkeit überhaupt, das Ethos als Teil dieser Vision und seine konkrete Anwendung unter dem Primat der Liebe verbanden sich miteinander. Primat des Logos und Primat der Liebe erwiesen sich als identisch. Der Logos erschien nicht nur als mathematische Vernunft auf dem Grund aller Dinge, sondern als schöpferische Liebe bis zu dem Punkt hin, daß er Mit-Leiden mit dem Geschöpf wird. Der kosmische Aspekt der Religion, die den Schöpfer in der Macht des Seins verehrt, und ihr existentieller Aspekt, die Erlösungsfrage, traten ineinander und wurden ein Einziges.
Tatsächlich muß jede Erklärung des Wirklichen ungenügend bleiben, die nicht auch ein Ethos sinnvoll und einsichtig begründen kann. Nun hat in der Tat die Evolutionstheorie, wo sie sich zur philosophia universalis auszuweiten anschickt, auch das Ethos evolutionär neu zu begründen versucht. Aber dieses evolutionäre Ethos, das seinen Schlüsselbegriff unausweichlich im Modell der Selektion, also im Kampf ums Überleben, im Sieg des Stärkeren, in der erfolgreichen Anpassung findet, hat wenig Tröstliches zu bieten. Auch wo man es auf mancherlei Weise zu verschönern strebt, bleibt es letztlich ein grausames Ethos. Das Bemühen, aus dem an sich Vernunftlosen das Vernünftige zu destillieren, scheitert hier recht augenfällig. Zu einer Ethik des universalen Friedens, der praktischen Nächstenliebe und der nötigen Überwindung des Eigenen, die wir brauchen, ist dies alles wenig tauglich.
Der Versuch, in dieser Krise der Menschheit dem Begriff des Christentums als religio vera wieder einen einsichtigen Sinn zu geben, muß sozusagen auf Orthopraxie und Orthodoxie gleichermaßen setzen. Sein Inhalt wird heute – letztlich wie damals – im tiefsten darin bestehen müssen, daß Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen in eins gehen: Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen.

In seinem Interview mit Peter Seewald faßt Kardinal Ratzinger nochmals ganz knapp zusammen, um was es auch in der in diesem Band dokumentierten Diskussion geht: „Das christliche Bild der Welt ist, daß die Welt im einzelnen in einem sehr komplizierten Evolutionsprozeß entstanden ist, daß sie aber im tiefsten eben doch aus dem Logos kommt. Sie trägt insofern Vernunft in sich“. (8 )
Diesem Logos nachzuspüren, das „progetto intelligente che è il cosmo“ (9) zu erforschen und zu ergründen, ist nur möglich, weil die Wirklichkeit „vernünftig“ ist und daher von unserer Vernunft erforscht werden kann. Doch mehr darüber in den Akten des Kolloquiums selbst. …

Mögen sie ein positiver Meilenstein in der nun schon 150 Jahre währenden Diskussion über Schöpfung und Evolution werden! In großer Dankbarkeit darf der Schülerkreis dem Heiligen Vater dieses Buch als kleine Festgabe zu seinem 80. Geburtstag überreichen.
+ Christoph Kardinal Schönborn