Die Seele Europas
Papst Benedikt XVI. und die europäische Identität
Herausgegeben von Sedmak, Clemens / Horn, Stephan Otto
Der vorliegende Band sammelt Ergebnisse der 1. Benedikt-Akademie im Oktober 2010 in St. Virgil/Salzburg und zeugt von der Relevanz und Fruchtbarkeit dieses Angebots.
Verlag FriedrichPustet,
Regensburg 2011
ISBN : 978-3-7917-2379-2
Paperback, 392 Seiten
EUR 29.90
1 Vgl. Mazower, Mark, Der dunkle Kontinent, Berlin 2000.
2 Vgl. Diner, Dan (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1980; Diner, Dan, Das Jahrhundert verstehen, München 1999.
3 Vgl. Bruckner, Pascal, Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa, München 2008. Hier stellen sich auch politische Fragen. Es ist an der Zeit, den politischen Diskurs um Konfliktmanagement und Erinnerungspolitik zu öffnen, wie dies etwa in dem von Ifi Amadiume und Abdullah An-Na’im herausgegebenen Band The Politics of Memory: Truth, Healing and Social Justice, London 2000, getan wird.
4 Vgl. Mak, Geert, In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert, München 22007.
5 Das 20. Jahrhundert hat Spuren der Verwüstung hinterlassen, die die Ge-schichtswissenschaft vor spezifische moralische Herausforderungen stellen – vgl. Glover, Jonathan, Humanity. A Moral History of the Twentieth Century, London 1999.
6 Vgl. Judgement of the Grand Chamber of the ECHR in case of Lautsi and others v. Italy, Application no. 30814/06 Straßburg, 18. März 2011.
7 Vgl. Volf, Miroslav, The End of Memory: Remembering Rightly in a Violent World, Grand Rapids/MI 2006.
8 Vgl. Margalit, Avishai, Ethik der Erinnerung, Frankfurt a. M. 2000.
Clemens Sedmak
Europa und eine Ethik des Gedächtnisses:
Papst Benedikt und der Holocaust
Papst Benedikt hat immer wieder auf die Kraft hingewiesen, die aus der Erinnerung an die christlichen Wurzeln Europas zu gewinnen ist. Ich möchte im Folgenden dieser „Politik und Ethik des Gedächtnisses“ nachgehen. Europäische Erinnerungskulturen stehen vor spezifischen Herausforderungen: Hier ist einmal die „Ungleichzeitigkeit“ zu nennen, die Osteuropa und Westeuropa in seinem Erleben der Vergangenheit und seinem Umgang mit dem Vergangenen getrennt hat oder auch immer noch trennt: Hier sind die „dunklen Seiten des Kontinents“ zu thematisieren, dessen Geschichte nicht nur als strahlende Geschichte von Erhellung, Aufklärung, Fortschritt und Wertekultur geschrieben werden kann, sondern auch die dunklen Seiten der Kriege, der Kolonialisierung, der internen Zerrüttungen aufweist 1− vor allem der „Zivilisationsbruch“ des Holocaust ragt als nicht einzuordnender Stachel im Fleisch der Historiographie aus der Landschaft des Erzähl- und Erinnerbaren heraus 2 und dämpft die Versuchung zu Gesten der Selbstgefälligkeit. Eine weitere Herausforderung der Idee europäischer Erinnerungskulturen ist auch in der Bedeutung religiöser Quellen für eine säkulare Geschichte zu finden oder auch in der Frage nach den Alleinstellungsmerkmalen europäischer Identität, die sich geschichtlichen Ein-zigartigkeiten verdanken müsste. Die „heiße Geschichte“ (Pierre Nora) des Zweiten Weltkriegs beschäftigt Europa; die komplexe und auch hitzige Debatte um das Holocaustmahnmal in Berlin (Wo soll es angesiedelt sein? Wie viel soll es kosten? Wie soll es aussehen? Welche Botschaft soll es vermitteln? Wem soll es gewidmet sein?) zeigt die „Temperatur“ der Erinnerung an. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Holocaust wird zu einer entscheidenden Frage im Rahmen einer Politik der Erinnerung. Europa als Schicksalsgemeinschaft muss auch die gemeinsamen Verstrickungen der Vergangenheit thematisieren. Hier ist viel Konfliktstoff geboten, wenn man etwa an die Auseinandersetzung zwischen Pascal Bruckner und Timothy Garton Ash denkt, wobei ersterer davor gewarnt hat, den europäischen Umgang mit Erinnerungen in einen „Schuldkomplex“ münden zu lassen.3 Eines ist klar: Europa kann seiner Vergangenheit nicht entrinnen. Geert Mak hat in einem bemerkenswerten Buch gezeigt, wie gezeichnet Europa von Erinnerungsspuren ist, wie ausgeprägt die Erinnerungsorte in Europa sind, wie verwoben wir alle mit dem 20. Jahrhundert und durch dieses Jahrhundert sind.4 Erinnerungsarbeit wird gerade dort schmerzhaft, wo wir vor Atrozitäten stehen, die uns an die Grenzen des Verstehbaren stoßen lassen.5 Die Arbeit an einem gemeinsamen Europa wird dann auch zur Arbeit an einem gemeinsamen kulturellen Gedächtnis: Wie geht Europa mit seiner Geschichte und Geschichtlichkeit um? Die im Buch X der Confessiones des Augustinus grundgelegten Ideen zur „Tiefe“ des Gedächtnisses können auch ein Kollektiv in seinem Umgang mit kulturellem und sozialem Gedächtnis beschäftigen. Was halten wir auf welche Weise in einer Kultur präsent? Wird dadurch nicht auch eine „Innerlichkeit“ von Kultur deutlich? Auch Diskussionen um die Präsenz religiöser Symbole im öffentlichen Raum – zuletzt das Urteil über das Kreuz als kulturelles Symbol in Italien 6 − haben mit dieser Politik des Erinnerns zu tun. Ein Appell an die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas hat auch theologische Aspekte – Miroslav Volf hat in seiner Theologie der Erinnerung auf die theologische Grundlegung „heilenden Erinnerns“ hingewiesen, wie es sich in ritualisierten Formen des Erinnerns (etwa: Paschafest, Eucharistie) inkarniert.7
Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat sich in seinen Frankfurter Horkheimer-Vorlesungen Gedanken über eine Ethik der Erinnerung gemacht.8 Es gibt bestimmte Dinge, die wir nicht vergessen dürfen, bestimmte Ereignisse, die wir in Erinnerung behalten müssen, vor allem Erinnerungen an Wurzeln und Spuren des radikal Bösen, das die Grundlagen der Menschheit unterminiert. Ergänzend zu Margalit könnte man anmerken, dass es auch um Spuren und Wurzeln des radikal Guten geht, wie es sich etwa in Edith Stein zeigt, die jüdische und christliche Tradition verbindet und Gesten des Guten inmitten der zerstörten moralischen Landschaft des nationalsozialistischen Regimes zeigt. Im folgenden Beitrag will ich auf einige Aspekte des Beitrags von Papst Benedikt XVI. zur Ethik und Politik europäischer Erinnerung eingehen. Dabei möchte ich als besonderen Bezugspunkt den Besuch des Papstes im Heiligen Land im Mai 2009 heranziehen.
Ich werde in fünf Schritten vorgehen –
im ersten Schritt will ich im Gespräch mit Papst Benedikt den Begriff von moralischen Ressourcen skizzieren (1).
Sodann möchte ich die Idee von „spiritueller Infrastruktur“ klären (2).
Drittens will ich einige Bemerkungen zu einer Ethik des Erinnerns nach Papst Benedikt machen (3).
Anschließend soll es um den Begriff der Gedächtnisarbeit gehen (4).
Schließlich will ich Papst Benedikts Überzeugung von der Bedeutung der Erinnerung der Wurzeln Europas thematisieren (5).
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