Rückschau
Resümee der Referate des Treffens der Schülerkreise des
emeritierten Papstes Benedikt in Castel Gandolfo 2016
Für das Treffen des Schülerkreises und des Neuen Schülerkreises Joseph Ratzinger/Papst Benedikt im Jahr 2016 konnten als Referenten der emeritierte Bischof von Graz-Seckau, Dr. jur. Egon Kapellari, sowie Joseph H. H Weiler, Professor für Völker- und Europarecht an der New York University School of Law und Präsident des European University Institute in Florenz, gewonnen werden. Beide Persönlichkeiten haben sich in Vergangenheit und Gegenwart profiliert zu Fragen der Identität und der Zukunft Europas geäußert. Joseph H. H. Weiler sieht das Hauptproblem des gegenwärtigen Europa vor allem in der bewussten Ausklammerung der jüdisch-christlichen Wurzeln in der Selbstdefinition Europas zugunsten einer einseitigen Betonung des säkularistischen Erbes, das den öffentlichen Raum fast ausschließlich mit dem Staat identisch setzt
Bischof Egon Kapellari stellt in seinem Referat im Blick auf die Zukunft Europas die Haltung eines von der christlichen Hoffnung geprägten realistischen Idealismus in den Mittelpunkt: Europa habe eine Zukunft, für die sich einzusetzen es sich lohnt, aber diese Haltung und die daraus resultierende Politik müsse sich immer an den realen Gegebenheiten und Möglichkeiten orientieren.
Die folgenden Texte geben jeweils das Resümee der beiden Referenten am Ende ihrer Ausführungen wieder.
Textauszug aus dem Referat von Bischof Dr. Egon Kapellari:
Alte und neue Herausforderungen für die Christen
auf dem Bauplatz Europa
Das Anwachsen von Einheit in globalen Dimensionen und vor allem in Europa war und ist ein besonderes Anliegen der Päpste nicht erst seit, aber besonders seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Der gelegentlich geäußerte Wunsch, es möge eine politische Weltinstanz geben, die verbindlich agieren könne, wurde immer auch relativiert durch die Furcht vor einem solchen Modell, das auch extrem totalitär sein oder werden könnte. Die UNO als derzeitige Weltinstanz hat demgegenüber ihre bekannten Grenzen und Schwächen. Sie könnte und sollte aber in ihren Grenzen viel stärker werden. Die Europäische Union ist hingegen ein viel stärkeres Vorhaben für mehr Miteinander in Europa und wurde an ihrem Beginn bekanntlich besonders durch katholische Politiker konzipiert und in Gang gebracht. Sie war damals ein realistisches Projekt, das zunächst durch eine Wirtschaftsunion miteinander oft verfeindete Vaterländer so verbinden wollte, dass ein Krieg zwischen ihnen nicht mehr möglich wäre. Seither ist diese Union in einem großen Suchprozess zwischen „trial and error“ in die Zukunft unterwegs in einem Tempo, das ein wenig der vielgenannten Echternacher Springprozession gleicht, die heute allerdings in ihrem rhythmischen Hin und Her nie auch nach rückwärts geht. Ich war einmal als Bischof offiziell mit dabei und weiß dies daher aus eigener Erfahrung.
Die Bischöfe der EU-Länder haben die Entwicklung dieses Projektes mit kritischer Solidarität begleitet im immer neuen Versuch, Solidarität und Kritik in Balance zu halten oder wieder in Balance zu bringen. Mehrheitlich sind die Episkopate Europas gemeinsam mit dem Heiligen Stuhl gewiss dafür, dass das Projekt mehr gemeinsames Europa durch die Europäische Union Zukunft hat, obwohl nicht wenige Skeptiker dies bezweifeln und manchmal nicht einmal befürchten. Papst Franziskus hat das Thema Europa mehrmals auf eine Weise angesprochen, die aufhorchen ließ und manche Müdigkeit und Trägheit in Frage gestellt oder sogar überwunden hat. Zuletzt geschah dies in der Sala Regia des Vatikans beim Empfang des Internationalen Aachener Karlspreises. Die Rede des Papstes war ein großer prophetischer Impuls für Inklusion und Brückenbau gegen Gräben, Mauern und Zäune. Sie war auch Balsam für die Wunden der dort anwesenden Hauptverantwortlichen von Europaparlament, Europakommission und Europäischem Rat. Der Idealhorizont dieser großen Rede des Papstes darf nicht vergessen werden, wenn Elan und Dynamik sich nicht drastisch mindern sollen in einem Europa, das in vielem weithin müde geworden ist, müde auch betreffend sein christliches Erbe. Diese Ideale müssen aber immer neu geerdet werden durch einen realistischen Idealismus.
Dieser Idealismus nährt sich besonders auch aus christlicher Hoffnung über alle Schwierigkeiten und Enttäuschungen hinaus. Diese im christlichen Glauben begründete Hoffnung sagt in solchen Enttäuschungen immer wieder ein Trotzdem. Sie sagt zu Gott mit Worten eines Psalms, den Martin Buber besonders geliebt und als Spruch für sein Grab in Jerusalem bestimmt hat: „Und doch bleibe ich stets bei dir, deine rechte Hand hast du auf mich gelegt“ (Ps 73). Der Philosoph Josef Pieper ‑ er war. wie George Weigel erzählt, mit Kardinal Joseph Ratzinger aber auch mit Kardinal Karol Wojtyla besonders verbunden ‑ Josef Pieper also hat in einer seiner Schriften auf ein immer noch fast unbekanntes Gedicht von Konrad Weiß hingewiesen, der im Jahr 1940 in München gestorben ist. Dieses Gedicht handelt unter dem Titel „Die Flucht nach Ägypten“ von der Kindheit Jesu und ist durchwirkt von zwei Verszeilen, die immer wiederkehren. Pieper nennt sie ein Bild von makelloser Schönheit und strahlender Gültigkeit und bezeichnet das Gedicht als eines der vollkommensten deutschen Gedichte. Die Verszeilen lauten: „Kummerlos steht die im Hoffen / unerschrockne Rose offen“. Unerschrockene Hoffnung ist auch uns inmitten der heutigen Menschenwelt und inmitten Europas trotz und wegen allem, was wir an Schwierigem erfahren, zugemutet. Und Zumutung heißt hier, positiv gewendet, jemandem Mut zutrauen.
Textauszug aus dem Referat von Prof. Joseph H. H. Weiler:
Über die spirituelle Krise Europas
Der christliche Messianismus und der jüdische Nomismus (Gesetzestreue) waren […] die spirituelle Untermauerung des europäischen Gebäudes. Doch aus dieser Perspektive heraus war das Unternehmen freilich dem Untergang geweiht, weil sein „Motor“, seine treibende Kraft, voll und ganz materialistisch war. Das Herzstück des Gebäudes war – und ist bis zum heutigen Tag – der Marktplatz, der Wettbewerb sowie die Vorstellung der persönlichen Weiterentwicklung, die auf indirektem Wege den Wohlstand aller steigern würde. Die jüdisch-christliche Tradition mag die Inspiration gewesen sein, doch die Durchführung hat der Markt-Materialismus übernommen, der zum regelrechten Credo des europäischen Gebäudes wurde und alles andere verschüttete.
Der bezeichnendste Augenblick brach während der Ausarbeitung der künftigen Verfassung für Europa an. Es ist bekannt […], dass die Urheber der geplanten Europäischen Verfassung es ablehnten, in der Präambel zu diesem Dokument ausdrücklich Bezug auf die christlichen Wurzeln der europäischen Identität zu nehmen. In meinem Forschungsessay Ein christliches Europa habe ich bereits erörtert, dass diese Entscheidung ein Verrat an der in jenem Dokument zum Ausdruck gebrachten feierlichen Verpflichtung zum Pluralismus und aus verfassungsrechtlicher Perspektive vor dem Hintergrund ungerechtfertigt war, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung Europas aus Mitgliedstaaten stammen, die in ihren Verfassungen eine explizite Invocatio Dei und/oder einen Bezug auf das Christentum haben. Dies ist ein bedeutender verfassungsrechtlicher Vorzug der europäischen Tradition, der beweist, dass Religion und Demokratie, Religion und Freiheit, Religion und Toleranz nebeneinander existieren können. Es ist bedauerlich, dass die Urheber der europäischen Verfassung diese wichtige Lektion aus dem Dokument, das ihr Gründungsdokument sein sollte, eliminiert haben. […]
In ihrem zweiten Paragraphen unterscheidet die von der Versammlung vorgeschlagene Präambel zwischen dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas…“ Interessanterweise ordnet der Vorschlag zur Präambel im ersten Paragraphen die Werte, insbesondere den Vorrang der Vernunft, als Grundlage dem Humanismus zu: „In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Vorrang der Vernunft“.
Die gleichzeitige Lektüre der beiden Paragraphen führt, so meine ich, zu einer unweigerlichen Schlussfolgerung: In den Augen ihrer Verfasser gehört der „Vorrang der Vernunft“ zum „humanistischen Erbe“, ist aber nicht etwas, was man mit der Religion assoziieren würde – und natürlich bedeutet Religion in Europa hauptsächlich Christentum oder allenfalls die jüdisch-christliche Tradition. Die europäische laizistische Maßnahme bedeutet nicht einfach nur, die Religion der Privatsphäre zu überantworten, wo sie natürlich als Teil unserer edlen und unerlässlichen Verpflichtung zur Gewissensfreiheit geschützt wird. Es ist eine Verbannung aus dem öffentlichen Raum von etwas, was nicht da sein sollte – aus einem öffentlichen Raum, der dem Vorrang der Vernunft verpflichtet ist. Diese verfassungsrechtliche Entscheidung spiegelt ausgezeichnet und aufrichtig das laizistische Gestade in der europäischen politischen Organisation wider. Man legt a priori fest, dass die Religion sich außerhalb des Zirkels des Vorrangs der Vernunft bewegt, verbannt sie dann aus seinem öffentlichen Raum und überantwortet sie dann der Privatsphäre – schließlich glauben ja einzelne Menschen allen möglichen unvernünftigen und irrationalen Unsinn. Benedikt XVI. will, wie ich ihn verstehe, nichts von alledem. Er erinnert uns daran, dass es unermessliche Fragestellungen und Probleme gibt, die das Menschsein (die Conditio Humana) betreffen – wie etwa die Frage nach seinem Ursprung und nach seinem Ziel –, mit denen sich der wissenschaftliche Rationalismus einfach nicht befasst, doch die nicht aus der Disziplin des mit Vernunft geführten Diskurses herausgenommen werden sollten. Noch feinsinniger scheint er anzudeuten, dass einfach der Gebrauch des Wortes „Religion“ keinem Glaubenssystem das Imprimatur der Legitimität unter diesem Gesichtspunkt verleihen sollte; er trifft die pointierte Aussage, dass die katholische Tradition im Christentum der Disziplin der Vernunft besonders verpflichtet ist, aber dass dies natürlich im selben Atemzug auch bedeutet, dass sie durch diese begrenzt ist.
[…] Wer zum Schwert greift – riskiert, durch das Schwert umzukommen. Und wer unter einer materialistischen Prämisse lebt, riskiert, unter der gleichen Prämisse umzukommen.
Man sollte nicht […] mit einer Botschaft der Verzweiflung enden. Denn in der gegenwärtigen Lage liegt auch der Samen zu einer Regenerierung. Europa ist, ob man es nun will oder nicht, eine Schicksalsgemeinschaft. Was irgendeiner seiner Mitgliedstaaten tut, hat eine bedeutende Auswirkung auf die anderen, wie die traurige Geschichte des Brexit gezeigt hat. Die einzige Frage ist jedoch, wie wir mit diesem Schicksal fertig werden. Kein Staat kann es alleine schaffen. Hierin liegt die Hoffnung.
Zusammenfassung: Dr. Josef Zöhrer