Zum Priesterjahr 2009/2010

Papst Benedikt XVI. antwortet Priestern

Thema 6: Zweites Vaticanum

Die Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) im Sinne einer „Hermeneutik der Kontinuität“ mit der Tradition der Kirche ist dem ehemaligen Konzilstheologen und jetzigen Papst Benedikt XVI. ein großes Anliegen. Gerade aus dem Kirchenbild des Konzils, so antwortete er Ende Februar 2007 einem Priester seiner Diözese Rom im Vatikan, könne eine geistliche Vertiefung der Seelsorgearbeit heute wachsen:

„Mir scheint, wir müssen die Ekklesiologie ( des Konzils ) noch viel mehr verinnerlichen, und zwar sowohl die Ekklesiologie von Lumen gentium wie jene von Ad gentes, das auch ein ekklesiologisches Dokument ist, sowie auch jene der kleineren Dokumente und sodann die Ekklesiologie von Die Verbum. Durch die Verinnerlichung dieser Sicht können wir auch unser Volk für diese Sicht gewinnen, damit es erkennt, dass die Kirche nicht bloß ein großes Gebilde, eine dieser übernationalen Einrichtungen ist, die es gibt. Die Kirche ist, auch wenn sie Leib ist, Leib Christi und somit ein geistlicher Leib, wie der hl. Paulus sagt. Sie ist eine geistliche Wirklichkeit.

Mir scheint daher sehr wichtig zu sein, dass die Menschen sehen können: Die Kirche ist keine übernationale Organisation, keine Verwaltungs- und Machtkörperschaft, keine Sozialagentur (…), sondern ein geistlicher Leib. Wir müssen mit dem Volk Gottes beten, mit dem Volk zusammen das Wort Gottes hören, mit dem Volk Gottes die Sakramente feiern, mit Christus in der Liebe tätig sein usw. Vor allem in unseren Predigten müssen wir diese Sicht verbreiten. In diesem Sinn ist, so scheint mir, die Homilie eine wunderbare Gelegenheit, den Menschen nahe zu sein und ihnen die vom Konzil gelehrte Spiritualität zu vermitteln. Und auf diese Weise ist die Homilie, wenn sie im Gebet, im Hören des Wortes Gottes gewachsen ist, Vermittlung des Inhalts des Gotteswortes. Dann erreicht wirklich das Konzil unser Volk. Nicht jene bruchstückhaften Splitter der Publizistik, die ein falsches Bild des Konzils verbreitet haben, sondern die wahre geistliche Wirklichkeit des Konzils. Und so müssen wir immer von neuem mit dem Konzil und im Geist des Konzils durch die Verinnerlichung seiner Vision das Wort Gottes lernen. Wenn wir das tun, können wir uns auch unseren Mitmenschen mitteilen und so tatsächlich eine pastorale und spirituelle Arbeit leisten.“

Wie aber kam es dazu, dass das Konzil so verschieden gedeutet wurde und noch immer gedeutet wird? In den Jahren der Rezeption des Konzils liegen zwei große historische Einschnitte, die mit den Jahren 1968 und 1989 gekennzeichnet sind. Zu den Priestern der Diözesen Belluno-Feltre und Treviso am 24.Juli 2007 in der Kirche Santa Giustina Martire (Auronzo die Cadore) spricht Papst Benedikt XVI. mit der bewegten Stimme des Zeitzeugen:

„In die Zeit gleich nach dem Konzil fällt der Einschnitt des Jahres 1968, der Beginn oder ich wage sogar zu sagen: die Explosion der großen kulturellen Krise des Westens. Die Nachkriegszeit war zu Ende. Nach all den Zerstörungen, nach dem Grauen des Krieges, des Einander-Bekämpfens, und nach der Bewusstwerdung des Dramas der großen Ideologien, die die Menschen wirklich in den Abgrund des Krieges geführt hatten, haben wir die christlichen Wurzeln Europas wiederentdeckt und haben begonnen, Europa mit diesen großen Idealen wieder aufzubauen. Aber als diese Zeit zu Ende war, kam auch alles Versagen zum Vorschein, die Mängel des Wiederaufbaus, das große Elend in der Welt. Und so beginnt … die Krise der westlichen Kultur – eine Kulturrevolution, würde ich sagen, die radikale Veränderungen herbeiführen will. Es wird gesagt: 2000 Jahre Christentum haben nicht zu einer besseren Welt geführt. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen, auf eine vollkommen neue Art; der Marxismus scheint die wissenschaftliche Lösung zu sein, um endlich die neue Welt zu schaffen. Und in diesem – um es so auszudrücken – schweren, großen Zusammenstoß zwischen der neuen und gesunden Modernität, die das Konzil wollte, und der Krise der Moderne wird alles ebenso schwierig wie nach dem Ersten Konzil von Nizäa (325). Eine Seite war der Meinung, dass diese Kulturrevolution das war, was das Konzil gewollte hatte. Sie identifizierte diese neue marxistische Kulturrevolution mit dem Willen des Konzils und sagte: ‚Das ist das Konzil! Im Wortlaut sind die Texte noch ein bisschen antiquiert, aber hinter dem geschriebenen Wort steht dieser Geist, das ist der Wille des Konzils, so müssen wir es tun.‘ Und von der anderen Seite kam natürlich die Reaktion: ‚So zerstört ihr die Kirche!‘ Die absolute Reaktion gegen das Konzil, die antikonziliare Haltung – und die zaghafte, demütige Suche nach einer Umsetzung des wahren Geistes des Konzils (…)

Und dann kam 1989 der zweite Einschnitt: der Zusammenbruch der kommunistischen Regimes. Aber die Antwort war nicht die Rückkehr zum Glauben, wie man es hätte vielleicht erwarten können, es wurde nicht wieder entdeckt, dass die Kirche durch das authentische Konzil die Antwort gegeben hatte. Die Antwort war dagegen der totale Skeptizismus, die sogenannte Postmoderne. Nichts ist wahr, jeder muss sehen, wie er lebt. Ein Materialismus gewinnt Oberhand, ein blinder pseudorationalistischer Skeptizismus, der am Ende in den Drogenkonsum führt, zu all den Problemen, die wir kennen, und der dem Glauben wieder den Weg verschließt, weil es so einfach ist, so offensichtlich: Nein, es gibt nichts Wahres. Die Wahrheit ist intolerant, wir können diesen Weg nicht einschlagen. Im Umfeld dieser beiden kulturellen Brüche also – zuerst die Kulturrevolution von 1968 und dann sozusagen der Fall des Nihilismus nach 1989 – geht die Kirche mit Demut ihren Weg zwischen den Leiden der Welt und der Herrlichkeit des Herrn (…)

Das Konzil hatte gesagt, dass man auf den Triumphalismus verzichten muss – und es hatte dabei an den Barock gedacht, an all diese großen Kulturen der Kirche. Es wurde gesagt: Beginnen wir auf moderne, auf neue Art. Aber ein anderer Triumphalismus war herangewachsen, der Triumphalismus, zu denken: Wir machen jetzt die Dinge, wir haben den Weg gefunden, und auf ihm finden wir die neue Welt. Aber die Demut des Kreuzes, des Gekreuzigten schließt gerade auch diesen Triumphalismus aus. Wir müssen auf den Triumphalismus verzichten, dass jetzt wirklich die große Kirche der Zukunft entsteht. Die Kirche Christi ist stets demütig, und gerade so ist sie groß und voll Freude. Es erscheint mir sehr wichtig, dass wir jetzt mit offenen Augen sehen können, wie viel Positives sich in der Zeit nach dem Konzil auch entwickelt hat: in der Erneuerung der Liturgie, in den Synoden – die römischen, die Welt- und die Diözesansynoden -, in den Gemeindestrukturen, in der Mitarbeit und neuen Verantwortlichkeit der Laien, in der großen interkulturellen und interkontinentalen Mitverantwortung, in einer neuen Erfahrung der Katholizität der Kirche, der Einmütigkeit, die in Demut wächst und die dennoch die wahre Hoffnung der Welt ist. Und so müssen wir, scheint mir, das große Erbe des Konzils wieder entdecken, das nicht ein hinter den Texten rekonstruierter Geist ist, sondern die großen Konzilstexte selbst, jetzt neu ausgelegt durch die Erfahrungen, die wir gemacht haben und die Früchte getragen haben in den vielen Bewegungen und vielen neuen Ordensgemeinschaften (…)

Auch heute wächst die Gegenwart des Gekreuzigten und Auferstandenen, der seine Wunden hat und sie behält. Er ist verwundet, aber gerade so erneuert er die Welt, schenkt er seinen Lebensatem, der auch die Kirche erneuert, trotz all unserer Armut. Und ich würde sagen, dass wir in diesem Zusammenwirken der Demut des Kreuzes und der Freude des auferstandenen Herrn, der uns im Konzil einen großen Wegweiser geschenkt hat, voll Freude und Hoffnung unseren Weg fortsetzen können.“

Manuel Schlögl © Libreria Editrice Romana