Priester – Wortbedenker – Seelsorger
von Prof. Dr. Achim Buckenmaier, Vorsitzender des Stiftungsrates
Der 100. Geburtstag von Sophie Scholl im Mai dieses Jahres ließ die Geschichte der Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ noch einmal lebendig werden. Ihre geistigen Wurzeln waren deutlich im Christlichen, ja sogar zum Teil im Katholischen. Sophie Scholl hatte Augustinus und Bernanos‘ „Tagebuch eines Landpfarrers“ gelesen. Die Fronterlebnisse ihres Bruders Hans und seiner Freunde öffneten ihr noch mehr die Augen für die Verbrechen des Naziregimes, des Krieges und der Shoa. Ihr Bruder Hans schrieb 1942 an der Ostfront in sein Tagebuch: “Es zieht mich manchmal schmerzlich hin zu einem Priester, aber ich bin misstrauisch gegen die meisten Theologen, sie könnten mich enttäuschen, weil ich jedes Wort, das aus ihrem Mund kommt, schon vorher gewusst hatte.“ Hans Scholl und viele seiner Generation spürten, dass es angesichts der extremen äußeren und inneren Verwüstungen nicht mehr reichen würde, die alten, schon bekannten Worte zu wiederholen, um ein Leben wieder recht zu führen.
Wenige Jahre nach diesem Tagebucheintrag kam ein junger Priester – auch er aus dieser Generation – an seine neue Kaplanstelle in München Bogenhausen: Joseph Ratzinger, der am 29. Juni 1951 in Freising zum Priester geweiht worden war. Wer seinen Weg und sein Werk verstehen und nicht bei den gängigen Klischees bleiben will, muss diesen Anfang kennen: In seinen 16 Wochenstunden Religionsunterricht, täglichem Beichthören und Jugendarbeit, die er neben der normalen Seelsorgearbeit hatte, machte der junge Kaplan eine ähnliche Erfahrung: „Freilich wurde mir auch sichtbar, wie weit die Denk- und Lebenswelt vieler Kinder vom Glauben entfernt war, wie wenig der Religionsunterricht noch Deckung im Leben und Denken der Familien fand. Ich konnte ferner nicht verkennen, dass die Form von Jugendarbeit, die noch ganz fortführte, was in der Zwischenkriegszeit gewachsen war, der sich inzwischen verändernden neuen Zeit nicht standhalten würde und dass man Ausschau halten musste nach neuen Formen.“[1]
Wie ein Paukenschlag wirkte, als er 1967 vor den deutschsprachigen Leitern der Priesterseminare feststellte: „Nicht Kulthandwerker, sondern Wortbedenker hat der Priester zu sein. Allerdings nicht Wortbedenker in einem bloß akademischen Sinne, sondern so, dass er selbst das Wort mehr und mehr als Wort Gottes zu vernehmen lernt.“[2] Für diese provozierende Sprache wurde er heftig kritisiert. Nach manchen Irrwegen in der Priesterausbildung und Liturgie klingt dies heute anders. Mit dem „Allerdings“ zusammen bleibt es aktuell und richtig.
Als Theologe blieb Joseph Ratzinger Priester, Lehrer, Seelsorger, klarsehender, diskreter Begleiter. Alle, die ihn persönlich kennen, haben es zigfach erlebt. Wenn sich die Theologie von der lebendigen Verkündigung löst, in eine hochgeschraubte Fachsprache verfällt und zu einem unverständlichen Pingpong zwischen Eingeweihten wird – an der Universität, in Gremien und Räten –, dann ist sie für ihn auf dem Holzweg. Verkündigung ist für Ratzinger der Ausgangspunkt und Zielpunkt der Theologie. Seine unzähligen Predigten und Katechesen, die jetzt in drei Bänden seiner „Werke“ leicht zugänglich sind, spiegeln genau diese Verbindung wider. Sie haben in den vergangenen siebzig Jahren Menschen auf der ganzen Welt angezogen und berührt, Kirchentreue und Kirchenferne, Gläubige wie Agnostiker, „einfache“ und hochgebildete Menschen, in Dorfkirchen und vor Parlamenten.
Seine Quellen sind dabei die „alten“: die Heilige Schrift aus Hebräischer Bibel und Neuem Testament, die Kirchenväter, die Heiligen, die Liturgie. Seine Sprache aber ist ansprechend, klar und immer wieder neu.
Vom Pfingstfeuer redet er als einem „intelligenten Feuer“, weil es in Zungen erscheint, den Verstand anspricht und auf ein neues Denken aus ist.[3] Im Alten Testament erkennt er manche „wartende Worte“ [4], die ihren Sinn erst in der Geschichte Jesu entfalten. In der Enzyklika Lumen fidei von Papst Franzikus finden sich zwei schöne Formulierungen, die auf Benedikt zurückgehen: Das Wasser, mit dem die Taufe gespendet wird, ist ein „zuverlässiges Wasser“[5], weil es unseren Lebensweg verlässlich in die richtige Richtung lenken kann. Und vom Licht des Glaubens heißt es, es sei ein „inkarniertes Licht“[6], weil es aus dem leuchtenden Leben Jesu herauskommt und den Glaubenden zu einer Liebe „mit Leib und Seele“ führen will.
Der wissenschaftliche Theologe Ratzinger ist immer auch der Verkünder des Wortes, der Priester, der die Menschen für den Logos Christus und die Schönheit eines Lebens im Raum der Geschichte Gottes öffnen will. Sind die Priester Künder des Wortes, dann sind sie auch wirkliche Diener der Freude, nicht billige Animateure.
In ganz weltlich geprägten Umgebungen wie vor dem britischen Parlament, beim Besuch in der Tschechischen Republik oder im deutschen Bundestag findet er als brillanter Intellektueller der Gegenwart mehr Gehör als bei manchen Katholiken. Das unaufdringlich Missionarische des Priesters Joseph Ratzinger gewinnt. In seiner Rede zur Aufnahme in die französische Académie des Sciences Morales et Politiques 1992 zitiert er einen Kirchenvater und beschreibt damit auch seine eigene Haltung als Theologe und Priester: „Wie Origenes sagt, trägt der Herr nur durch Überzeugungskraft den Sieg davon, nicht durch Gewalt.“[7]
Noch in der Rede im Konzerthaus in Freiburg 2011 – gleichsam ein Vermächtnis an die Kirche in Deutschland – wirkte die erste Kaplanseinsicht nach: Erst eine Kirche, die versteht, dass ihr die Geschichte mit ihrer Kritik und ihren Säkularisierungen zu Hilfe kommt, eine Kirche, die auf politischen Einfluss und ihre Privilegien verzichtet, die deswegen auch klein sein wird, findet eine Sprache und Form, die das Ohr von Menschen auch außerhalb ihrer Räume erreicht.
Ratzingers hohes Priesterjubiläum fällt in eine Zeit, in der das Amt in der Kirche hart in der Kritik steht. Einen Beitrag zur Diskussion um die Lehre, dass nur Männer die Priesterweihe empfangen können, überschreibt er bezeichnender Weise mit dem Titel „Grenzen kirchlicher Vollmacht“. Konzilien und Synoden, selbst der Papst, sie können nicht einfach alles eigenmächtig entscheiden. Am Schluss des Artikels fehlt aber nicht ein kritischer Ton auf die jetzigen Priester hin. Es gibt, so schreibt Joseph Ratzinger, was das Priestersein angeht, auch ein „gelebtes Missverständnis, in dem tatsächlich Priestertum auf ‚decision-making‘ und auf ‚power‘ reduziert erscheint“[8].
Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. verkörpert bis heute ein anderes Priestertum. Sein spektakulärer Amtsverzicht als Papst liegt auf dieser Linie. Er verwies dabei nicht auf andere, sondern bescheiden und nüchtern auf die eigenen schwindenden Kräfte. Er löste ein, was er selber vom Priestersein glaubt und bis heute lebt. Er sagt selbst:
„Hier entfaltet nicht einer seine eigenen Kräfte und Begabungen; hier ist nicht einer als Funktionär eingesetzt, weil er das besonders gut kann oder weil es ihm liegt oder einfach, weil er sich damit sein Brot verdienen möchte. Es geht nicht um einen Job, in dem man mit seinem Können sich seinen Lebensunterhalt sichert, um dann vielleicht zu Besserem aufzusteigen. Sakrament heißt: Ich gebe, was ich selbst nicht geben kann; ich tue, was nicht aus mir kommt; ich stehe in einer Sendung und bin zum Träger dessen geworden, was der Andere mir übergeben hat.“[9]
Quelle: Leicht erweiterter Beitrag für: Konradsblatt. Wochenzeitung für das Erzbistum Freiburg 26/2021.
[1] Joseph Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen, München: DVA 32006, 74-75. [2] Joseph Ratzinger, Zur Frage des priesterlichen Dienstes (1967), in: JRGS 12, 33-50350-386; 369. [3] Benedikt XVI., Meditation bei der ersten Generalkongregation der XIII. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, 8. Oktober 2012. [4] Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Prolog: Die Kindheitsgeschichten, Freiburg – Basel – Wien 2012, 58; vgl. 30 (= Jesus III). [5] Franziskus, Enzyklika Lumen fidei (29. Juni 2013), Nr. 42. [6] Ebd. Nr. 34. [7] Vgl. Joseph Ratzinger, Die Bewegungen, die Kirche, die Welt. Dialog beim Studienseminar zum Thema „Kirchliche Bewegungen und neue Gemeinschaften in der Hirtensorge der Bischöfe, Juni 1999, in: JRGS 8/1, 391-422; 414. [8] Joseph Ratzinger, Grenzen kirchlicher Vollmacht. Einführung zum Apostolischen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ (1994), in: JRGS 12, 139-153; 152. [9] Joseph Ratzinger, Vom Wesen des Priestertums, in: JRGS 12, 33-50; 39.
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