Zum Jahr des Glaubens

Was ist das – der Glaube?

Texte von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. zum „Jahr des Glaubens“

Im Laufe von sechzig Jahren als theologischer Lehrer und Priester und in besonderer Weise seit 2005 als Papst Benedikt XVI. hat Joseph Ratzinger viele Male über den Glauben gesprochen, in Predigten, Ansprachen, Büchern und Interviews. Wir wollen im Jahr des Glaubens auf der Homepage der Stiftung Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. einige seiner Aussagen zum Glauben zugänglich machen. Wir werden zwischen Oktober 2012 und November 2013 in Folge kleine Textzusammenstellungen präsentieren und die Aussagen jeweils unter ein bestimmtes Thema stellen.

Thema 7: Glaube und Schönheit

Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. hat sich bereits in seiner Zeit vor seiner Wahl zum Nachfolger Petri intensiv mit dem Thema der Schönheit auseinandergesetzt. Die Liebe zur Schönheit, die für ihn von Gott selbst herrührt und im Glauben seine Antwort findet, hat er auch als Papst in vielen Aussagen thematisiert. Man kann sagen, dass er auch als Pontifex maximus ein vom Pfeil des Schönen Verwundeter blieb (vgl. seinen Beitrag von 2002 „Verwundet vom Pfeil des Schönen“). Die Schönheit Gottes, seiner Schöpfung und Erlösung und damit des gesamten christlichen Glaubens ist für ihn ein Quell- und Zielpunkt seines Denkens. Dies trat am Ende seines Pontifikats in seiner Zusammenfassung der Fastenexerzitien 2013 für die Römische Kurie, die Kardinal Ravasi gehalten hatte, noch einmal hervor, als er von der Schönheit als dem Siegel der Wahrheit sprach:

Am Ende dieser geistlich so dichten Woche bleibt allein ein Wort: danke! Dank an euch für diese betende und zuhörende Gemeinschaft, die mich in dieser Woche begleitet hat. Dank vor allem an Sie, Eminenz, für diese so schönen „Spaziergänge“ im Universum des Glaubens, im Universum der Psalmen. Der Reichtum, die Tiefe, die Schönheit dieses Universums hat in uns Faszination erweckt, und wir sind dankbar, da das Wort Gottes erneut zu uns gesprochen hat, mit neuer Kraft. „Kunst des Glaubens, Kunst des Betens“ war der rote Faden. Mir ist die Tatsache in den Sinn gekommen, dass die mittelalterlichen Theologen das Wort „Logos“ nicht nur mit „verbum“ übersetzt haben, sondern auch mit „ars“: „verbum“ und „ars“ sind gegenseitig austauschbar. Nur in beiden zusammen tritt für die Theologen des Mittelalters die ganze Bedeutung des Wortes „logos“ hervor. Der „Logos“ ist nicht nur mathematische Vernunft: der „Logos“ hat ein Herz, der „Logos“ ist auch Liebe.

Die Wahrheit ist schön, Wahrheit und Schönheit gehören zusammen: die Schönheit ist das Siegel der Wahrheit. Und dennoch haben Sie – ausgehend von den Psalmen und von unserer alltäglichen Erfahrung – deutlich hervorgehoben, dass dem „sehr schön“ des sechsten Tages – wie dies der Schöpfer zum Ausdruck bringt – in dieser Welt ständig widersprochen wird, vom Bösen, vom Leid, von der Korruption. Und es scheint gleichsam, als wolle der Teufel ständig die Schöpfung beschmutzen, um Gott zu widersprechen und seine Wahrheit und Schönheit unkenntlich zu machen. In einer derart vom Bösen gezeichneten Welt müssen der „Logos“, die ewige Schönheit und die ewige „Ars“ wie ein „caput cruentatum“ erscheinen. Der menschgewordene Sohn, der fleischgewordene „Logos“, ist mit einer Dornenkrone gekrönt; und dennoch beginnen wir gerade so, in dieser leidenden Gestalt des Gottessohnes die tiefste Schönheit unseres Schöpfer und Erlösers zu sehen; dennoch können wir in der Stille der „finsteren Nacht“ sein Wort hören. Glauben ist nichts anderes als in der Nacht der Welt die Hand Gottes berühren und so – in der Stille – das Wort hören, die Liebe sehen. (An die Römische Kurie, 23. Februar 2013)

Die Schönheit des ewigen Logos, die auf unseren Glauben ausstrahlt, hat auch das geprägt, was dem Christentum in wunderbaren Bauwerken entsprungen ist. Mit der Schönheit der Architektur wird der Blick des Betrachters zur ewigen Schönheit Gottes emporgehoben, wie es Benedikt XVI. anlässlich seiner apostolischen Reise in die Tschechische Republik ausgedrückt hat.

Liebe Freunde, wir befinden uns in einer wunderschönen Hauptstadt, die oft als Herz Europas bezeichnet wird. Das lädt uns ein, uns die Frage zu stellen, worin dieses „Herz“ besteht. Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage, doch können die architektonischen Meisterwerke, die diese Stadt schmücken, uns gewiß einen Anhaltspunkt liefern. Die faszinierende Schönheit ihrer Kirchen, der Burg, der Plätze und Brücken kann unseren Geist nur zu Gott führen. Ihre Schönheit bringt den Glauben zum Ausdruck; sie sind sichtbare Zeichen Gottes, die uns zurecht zum Nachdenken über die herrlichen Wunderwerke anregen, die wir Geschöpfe erstreben können, wenn wir die ästhetischen und denkerischen Aspekte unseres innersten Wesens zum Ausdruck bringen. Wie tragisch wäre es, wenn jemand solche Beispiele von Schönheit betrachtete, aber in Unkenntnis des transzendenten Geheimnisses verbliebe, auf das sie hindeuten.

Die schöpferisch fruchtbare Begegnung der klassischen Tradition mit dem Evangelium brachte eine Vision von Mensch und Gesellschaft hervor, die auf Gottes Gegenwart unter uns achtet. Diese Vision prägte das kulturelle Erbe dieses Kontinents und hob dabei hervor, daß die Vernunft nicht mit dem endet, was die Augen sehen, sondern daß sie zu dem hingezogen wird, was jenseits liegt; zu dem, nach dem wir zutiefst verlangen: dem „Geist der Schöpfung“, wie wir ihn nennen könnten. Am gegenwärtigen Scheideweg der Zivilisation, die so oft von einer beunruhigenden Spaltung der Einheit des Guten, der Wahrheit und der Schönheit gekennzeichnet ist – ebenso wie von der sich daraus ergebenden Schwierigkeit, eine Akzeptanz gemeinsamer Werte zu finden –, muß sich jedes Bemühen um den Fortschritt des Menschen vom lebendigen Erbe inspirieren lassen. Europa hat in Treue zu seinen christlichen Wurzeln eine besondere Berufung, diese transzendente Vision in seinen Initiativen im Dienst des Gemeinwohls der einzelnen Menschen, der Gruppen und der Länder zu bewahren. (Prager Burg, Spanischer Saal, 26. September 2009)

Nicht nur in Prag, auch später in Barcelona ist Papst Benedikt XVI. in Bezug auf den überwältigenden Bau der „Sagrada Familia“ wieder auf das Thema Schönheit und Glaube, Schönheit und Wahrheit zurückgekommen. Auf die Frage von P. Lombardi, ob der Architekt Gaudí und die „Sagrada Familia“ ein besonders gelungener Ausdruck für das Wortpaar Glaube–Kunst seien und wie der Glaube heute seinen Platz in der Welt der Kunst und der Kultur wiederfinden könne, antwortete der Heilige Vater Benedikt XVI.:

So ist es. Sie wissen, daß ich immer wieder zum Thema der Beziehung zwischen Glaube und Vernunft zurückkehre, daß der Glaube, der christliche Glaube seine Identität nur findet in der Öffnung zur Vernunft, und daß die Vernunft nur sie selbst wird, wenn sie sich auf den Glauben hin übersteigt. Aber genauso wichtig ist die Beziehung zwischen Glauben und Kunst, weil die Wahrheit, das Ziel der Vernunft, sich in der Schönheit ausdrückt und in der Schönheit sie selbst wird, sich als Wahrheit erweist. Also muß dort, wo die Wahrheit ist, die Schönheit entstehen, wo der Mensch sich in richtiger, guter Weise verwirklicht, drückt er sich in der Schönheit aus. Die Beziehung zwischen Wahrheit und Schönheit ist unauflöslich, und deshalb brauchen wir die Schönheit.

Von Anfang an, auch in der großen Einfachheit und Armut der Verfolgungszeit, waren in der Kirche die Kunst, die Malerei, der Ausdruck der Rettung durch Gott in den Bildern der Welt, der Gesang, und dann auch das Gebäude grundlegend. All das ist grundlegend für die Kirche und wird es immer bleiben. So war die Kirche jahrhundertelang die Mutter der Künste: der große Schatz der westlichen Kunst – sowohl die Musik wie auch Architektur und Malerei – ist innerhalb der Kirche aus dem Glauben heraus entstanden. Heute gibt es eine gewisse „Meinungsverschiedenheit“, das aber schadet sowohl der Kunst als auch dem Glauben: Die Kunst, die die Wurzel der Transzendenz verlöre, würde nicht mehr auf Gott zugehen, sie wäre verkürzt, sie würde die lebendige Wurzel verlieren. Und ein Glaube, der nur in der Vergangenheit Kunst hervorgebracht hätte, wäre kein Glaube in der Gegenwart mehr; heute muß er erneut als Wahrheit ausgedrückt werden, die immer präsent ist. Deshalb ist der Dialog oder die Begegnung, ich würde sagen beides, zwischen Kunst und Glaube in das tiefste Wesen des Glaubens eingeschrieben.

Wir müssen alles tun, damit auch heute der Glaube in echter Kunst Ausdruck findet, wie bei Gaudí in der Kontinuität und der Neuheit. Und die Kunst darf den Kontakt zum Glauben nicht verlieren. (Pressekonferenz 6. November 2011)

Am Tag darauf sagte Benedikt XVI. dann in seiner Predigt in der „Sagrada Familia“ über den großartigen Bau dieser Kirche, die einzuweihen er gekommen war:

Was bedeutet es, diese Kirche zu weihen? Mitten in der Welt, im Angesicht Gottes und der Menschen, haben wir in einem demütigen und freudigen Glaubensakt ein immenses Bauwerk errichtet, Frucht der Natur und unermeßlicher Anstrengungen der menschlichen Intelligenz, der Erbauerin dieses Kunstwerks. Es ist ein sichtbares Zeichen des unsichtbaren Gottes, zu dessen Ehre diese Türme emporragen: Wie Pfeile verweisen sie auf das Absolute des Lichts und dessen, der das Licht, die Erhabenheit und die Schönheit selbst ist. In diesem Raum wollte Gaudí die Eingebung zusammenfassen, die er aus den drei großen Büchern erhielt, aus denen er als Mensch, als Gläubiger und als Architekt Nahrung zog: das Buch der Natur, das Buch der Heiligen Schrift und das Buch der Liturgie. So vereinte er die Wirklichkeit der Welt und die Heilsgeschichte, wie sie uns durch die Bibel berichtet und in der Liturgie vergegenwärtigt wird. Er nahm Steine, Bäume und menschliches Leben in den Sakralbau hinein, um die ganze Schöpfung auf das göttliche Lob auszurichten, aber gleichzeitig brachte er die Retabel hinaus, um den Menschen das Geheimnis Gottes vor Augen zu führen, das in der Geburt, im Leiden, im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi offenbart wird.

So wirkte er auf geniale Weise am Aufbau eines menschlichen Bewußtseins mit, das in der Welt verankert, offen für Gott und von Christus erleuchtet und geheiligt ist. Und er verwirklichte das, was heute zu den wichtigsten Aufgaben gehört: die Überwindung der Spaltung zwischen menschlichem und christlichem Bewußtsein, zwischen der Existenz in dieser zeitlichen Welt und der Öffnung zum ewigen Leben, zwischen der Schönheit der Dinge und Gott als der Schönheit selbst. Antoni Gaudí verwirklichte all dies nicht mit Worten, sondern mit Steinen, Linien, Oberflächen und Spitzen. In Wirklichkeit ist die Schönheit das große Bedürfnis des Menschen; sie ist die Wurzel, die den Stamm unseres Friedens und die Früchte unserer Hoffnung hervorbringt.

Die Schönheit ist auch Offenbarerin Gottes, denn das schöne Werk ist wie er reine Unentgeltlichkeit, es lädt zur Freiheit ein und entreißt den Menschen dem Egoismus. […] Gaudí zeigt uns durch sein Werk, daß Gott der wahre Maßstab des Menschen ist, daß das Geheimnis der wahren Originalität, wie er sagte, darin besteht, zum Ursprung zurückzukehren, der Gott ist. Indem er selbst in dieser Weise seinen Geist für Gott öffnete, konnte er in dieser Stadt einen Raum der Schönheit, des Glaubens und der Hoffnung schaffen, der den Menschen zur Begegnung mit jenem führt, der die Wahrheit und die Schönheit selbst ist. Der Architekt brachte seine Empfindungen so zum Ausdruck: „Nur eine Kirche kann die Gesinnung eines Volkes würdig repräsentieren, denn die Religion ist das Erhabenste im Menschen.“ (Predigt, 7. November 2011)

Über die Reflexion über die Schönheit des Kirchenbaus kommt Benedikt XVI. noch auf einen anderen Aspekt der Schönheit zu sprechen, die die Heiligkeit betrifft:

Während ich auf diesen heiligen Ort von bezaubernder Schönheit voll Staunen blicke, der so viel Geschichte des Glaubens aufzuweisen hat, bitte ich Gott, daß hier in Katalonien immer neue Zeugen der Heiligkeit hervorkommen und sich festigen mögen, die der Welt den großen Dienst anbieten, den die Kirche der Menschheit leisten kann und muß: Ikone der göttlichen Schönheit zu sein, brennende Flamme der Liebe, Weg, der dahin führt, daß die Welt an den glaubt, den Gott gesandt hat (vgl. Joh 6,29). (Predigt, 7. November 2011)

Die Schönheit der Heiligen – eben der Menschen, die sich ganz in den Dienst Gottes haben nehmen lassen – sieht er in besonderer Weise im betenden Menschen, in den kontemplativen Klöstern, die sozusagen an Orten, die die Schönheit der Schöpfung erfahren lassen, zu Oasen des Geistes geworden sind. In einer der Generalaudienzen in Castelgandolfo sagte er anlässlich des Festes der hl. Klara von Assisi:

Zu allen Zeiten haben Männer und Frauen, die ihr Leben Gott im Gebet geweiht haben – wie die Mönche und Nonnen – ihre Gemeinschaften an besonders schönen Orten angesiedelt: auf dem Land, auf Hügeln, in Bergtälern, an Seeufern oder am Meer oder sogar auf kleinen Inseln. Diese Orte vereinen zwei für das kontemplative Leben sehr wichtige Elemente: die Schönheit der Schöpfung, die auf jene des Schöpfers verweist, und die Stille, die fernab der Städte und der großen Verkehrsadern gewährleistet ist. Ein von der Stille geprägtes Umfeld fördert die Sammlung, das Hören auf Gott und die Betrachtung am besten. Allein schon die Tatsache, die Stille zu genießen, sich von der Stille sozusagen „erfüllen“ zu lassen, schenkt uns innere Bereitschaft zum Gebet. […] Die Stille und die Schönheit des Ortes, an dem die klösterliche Gemeinschaft lebt – eine einfache und strenge Schönheit – sind gleichsam ein Widerschein der geistlichen Harmonie, die die Gemeinschaft umzusetzen bestrebt ist. (Generalaudienz 10. August 2011)

Dann, etwas später – immer noch im Urlaubsmonat August 2011 in Castelgandolfo – griff er das Thema der Schönheit im Blick auf die Schönheit der Kunst und auch der Musik nochmals auf, die ein Weg sein können, damit sich der Geist des Menschen im Gebet zu Gott erhebe. Benedikt XVI. denkt hier wieder Glaube, Wahrheit und Schönheit zusammen:

Ich habe in diesen Wochen mehrmals in Erinnerung gerufen, wie notwendig es für jeden Christen ist, Zeit zu finden für Gott, für das Gebet, inmitten der Geschäftigkeit unseres Tagesablaufs. Der Herr selbst schenkt uns viele Gelegenheiten, an ihn zu denken. Heute möchte ich kurz bei einem der Wege verweilen, die uns zu Gott führen und die uns auch bei der Begegnung mit ihm hilfreich sein können: der Weg der Kunstwerke als Teil jener „via pulchritudinis“ – des „Weges der Schönheit“ –, über den ich mehrmals gesprochen habe und den der heutige Mensch in seiner tiefsten Bedeutung wiederentdecken sollte. Vielleicht ist es euch schon einmal passiert, daß ihr angesichts einer Skulptur, eines Bildes, einiger Verse aus einem Gedicht oder eines Musikstücks eine innere Bewegtheit, eine Freude empfunden habt, daß ihr deutlich gespürt habt, daß ihr nicht nur Materie vor euch habt – ein Stück Marmor oder Bronze, eine bemalte Leinwand, eine Ansammlung von Buchstaben oder eine Anhäufung von Tönen –, sondern etwas Größeres, etwas, das „spricht“, das in der Lage ist, das Herz zu berühren, eine Botschaft zu vermitteln, den Geist zu erheben.

Ein Kunstwerk ist Frucht der schöpferischen Fähigkeit des Menschen, der über die sichtbare Wirklichkeit nachdenkt, der versucht, ihren tieferen Sinn zu erfassen und ihn durch die Sprache der Formen, der Farben, der Töne zu vermitteln.

Die Kunst ist fähig, das Bedürfnis des Menschen, über das Sichtbare hinauszugehen, zum Ausdruck zu bringen und sichtbar zu machen; sie offenbart das Verlangen und die Suche nach dem Unendlichen. Ja, sie ist gleichsam eine offene Tür zum Unendlichen, zu einer Schönheit und einer Wahrheit, die über das Alltägliche hinausgehen. Und ein Kunstwerk kann die Augen des Verstandes und des Herzens öffnen und uns nach oben hin ausrichten. Es gibt jedoch Kunstwerke, die wahre Wege zu Gott, der erhabensten Schönheit, sind – ja, die sogar dabei helfen können, in der Beziehung mit ihm, im Gebet zu wachsen. Es handelt sich um die Werke, die aus dem Glauben heraus entstehen und die den Glauben zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel wird uns gegeben, wenn wir eine gotische Kathedrale besuchen: Wir sind hingerissen von den vertikalen Linien, die sich zum Himmel erheben und die unseren Blick und unseren Geist in die Höhe richten, während wir uns zur selben Zeit klein fühlen oder nach Fülle verlangen… Oder wenn wir in eine romanische Kirche eintreten: Wir sind sofort zur Sammlung und zum Gebet eingeladen. Wir spüren, daß in diesen wunderbaren Bauwerken gleichsam der Glaube von Generationen enthalten ist. Oder wenn wir ein Stück Kirchenmusik hören, das die Saiten unseres Herzens zum Schwingen bringt: Unser Herz wird gleichsam erweitert, und es kann sich leichter an Gott wenden.

Ich erinnere mich an ein Konzert mit Musik von Johann Sebastian Bach in München unter der Leitung von Leonard Bernstein. Am Ende des letzten Stücks, einer der Kantaten, spürte ich, nicht durch Überlegung sondern im tiefsten Herzen, daß das, was ich gehört hatte, mir Wahrheit vermittelt hatte, die Wahrheit des allerhöchsten Komponisten, und es drängte mich, Gott zu danken. Neben mir saß der bayerische lutherische Landesbischof, und ich sagte unvermittelt zu ihm: „Wenn man das hört, dann versteht man: Das ist wahr. Wahr ist der so starke Glaube und die Schönheit, die die Gegenwart der Wahrheit Gottes unwiderstehlich zum Ausdruck bringt.“

Wie oft spornen uns doch Bilder oder Fresken, Frucht des Glaubens des Künstlers, durch ihre Formen, ihre Farben, ihr Licht an, die Gedanken Gott zuzuwenden, und lassen in uns das Verlangen wachsen, aus dem Quell aller Schönheit zu schöpfen. Ein großer Künstler, Marc Chagall, hat geschrieben, daß die Maler ihren Pinsel jahrhundertelang in jenes bunte Alphabet getaucht haben, das die Bibel ist. Wie oft können also Kunstwerke für uns Gelegenheiten sein, an Gott zu denken, können sie unser Gebet oder auch die Umkehr des Herzens unterstützen!

Als Paul Claudel, ein berühmter französischer Dichter, Dramaturg und Diplomat 1886 in der Basilika „Notre Dame“ in Paris während der Weihnachtsmesse den Gesang des „Magnifikat“ hörte, spürte er die Gegenwart Gottes. Er war nicht aus Glaubensgründen in die Kirche gegangen, sondern er war dorthin gegangen, um Argumente gegen die Christen zu suchen. Statt dessen wirkte jedoch Gottes Gnade in seinem Herzen. Liebe Freunde, ich lade euch ein, die Bedeutung dieses Weges auch für das Gebet, für unsere lebendige Beziehung zu Gott neu zu entdecken.

Die Städte und Dörfer in aller Welt enthalten Kunstschätze, die den Glauben zum Ausdruck bringen und uns auffordern, in Beziehung zu Gott zu treten. Der Besuch von Stätten der Kunst möge daher nicht nur Gelegenheit zur kulturellen Bereicherung sein – das auch –, sondern er möge vor allem zu einem Augenblick der Gnade werden und uns anspornen, unsere Verbindung und unseren Dialog mit dem Herrn zu festigen und innezuhalten, um – im Übergang von der einfachen äußeren Wirklichkeit zur tieferen Wirklichkeit, die darin zum Ausdruck kommt – den Strahl der Schönheit zu betrachten, der uns berührt, uns gleichsam im Innersten „verwundet“ und uns einlädt, zu Gott aufzusteigen.

Ich schließe mit dem Gebet eines Psalms, Psalm 27: „Nur eines erbitte ich vom Herrn, danach verlangt mich: Im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage meines Lebens, die Freundlichkeit des Herrn zu schauen und nachzusinnen in seinem Tempel“ (V. 4). Hoffen wir, daß der Herr uns helfen möge, seine Freundlichkeit, seine Schönheit zu schauen, sowohl in der Natur als auch in den Kunstwerken, auf daß wir berührt werden vom Licht seines Antlitzes, damit auch wir Licht für unseren Nächsten sein können. Danke. (Generalaudienz 31. August 2011)

Schließlich spielt die Schönheit bei Papst Benedikt XVI. auch noch eine wichtige Rolle, wenn er an die Einheit der Christen denkt. Als er bei seiner Reise in den Libanon die griechisch-melkitische Basilika „St Paul“ aufsuchte, in der sich die Bischöfe des Nahen Ostens, aber auch Vertreter der nichtkatholischen Kirchen, der Muslime und der Drusen versammelt hatten, sagte Benedikt XVI. am Fest der Kreuzerhöhung in Hinblick auf das Nachsynodale Apostolische Schreiben „Ecclesia in Medio Oriente“, das er dort unterzeichnen sollte:

Die Synodenväter haben angesichts der aktuellen Situation der Kirche im Nahen Osten über die Freuden und Sorgen, die Ängste und Hoffnungen der Jünger Christi, die an diesen Orten leben, nachgedacht. Auf diese Weise hat die gesamte Kirche den ängstlichen Schrei hören und den verzweifelten Blick so vieler Männer und Frauen vernehmen können, die sich in schwierigen menschlichen und materiellen Situationen befinden, die in Angst und Sorge große Spannungen durchleben und die Christus nachfolgen wollen – ihm, der ihrem Leben Sinn gibt –, aber oft daran gehindert werden.

Daher war es mein Wunsch, daß der Erste Petrusbrief die Grundlage des Dokumentes sei. Zugleich konnte die Kirche vieles Schöne und Edle in den Kirchen in diesen Ländern bewundern. Wie sollte man da Gott nicht jederzeit für euch alle danken (vgl. 1 Thess 1,2; Erster Teil des Nachsynodalen Schreibens), liebe Christen im Nahen Osten! Wie sollte man ihn nicht loben für euren Mut im Glauben? Wie ihm nicht danken für die Flamme seiner unendlichen Liebe, die ihr an den Orten weiterhin am Leben und Brennen erhaltet, welche die ersten waren, die seinen menschgewordenen Sohn aufgenommen haben? Wie sollten wir ihm nicht unseren Dank bekunden für die Dynamik der kirchlichen und brüderlichen Gemeinschaft, für die menschliche Solidarität, die immer wieder unter allen Söhnen und Töchtern Gottes gelebt wird.. Gerade am heutigen Tag ist der Sieg der Liebe über den Haß zu feiern, jener der Vergebung über die Vergeltung, jener des Dienens über das Herrschen, jener der Demut über den Stolz, jener der Einheit über die Spaltung.

Im Licht des heutigen Festes und im Blick auf eine fruchtbare Umsetzung des Schreibens lade ich euch alle ein, keine Angst zu haben, in der Wahrheit zu bleiben und die Reinheit des Glaubens zu pflegen. Das ist die Sprache des ruhmreichen Kreuzes! Das ist die Torheit des Kreuzes, die es versteht, unsere Schmerzen in einen Schrei der Liebe zu Gott und des Erbarmens für den Nächsten zu verwandeln; die es auch versteht, in ihrem Glauben und ihrer Identität angegriffene und verwundete Menschen in irdene Gefäße zu verwandeln, die bereit sind, sich vom Übermaß der göttlichen Gaben erfüllen zu lassen, die wertvoller als Gold sind (vgl. 2 Kor 4,7-18). Es handelt sich hier nicht um eine rein allegorische Sprachweise, sondern um einen inständigen Aufruf, konkrete Taten zu vollbringen, die uns immer mehr Christus ähnlich machen, Taten, die den verschiedenen Kirchen helfen, die Schönheit der ersten Gemeinde der Glaubenden widerzuspiegeln (vgl. Apg 2,41-47; Zweiter Teil des Schreibens); Taten, die jenen von Kaiser Konstantin ähnlich sind, der es verstanden hat, Zeugnis zu geben und die Christen aus der Diskriminierung herauszuführen, um ihnen zu ermöglichen, offen und frei ihren Glauben an den für das Heil aller gekreuzigten, gestorbenen und auferstandenen Christus zu leben. (Ansprache 14. September 2012)

© PD Dr. Michaela C. Hastetter